Schon von Paula Wessely sagte man, dass sie ein Vorkriegsgesicht hatte. Zuerst wollte man sie beim Film nicht nehmen, weil sie kein Gesicht hatte, das dem Schönheitsideal der Kaiserzeit entsprach. Ein Gesicht, das damals noch besonders war. Nicht ephebisch, sondern eine leidende, starke Frau. So wie sie in Cordula, die 1917 spielt ein uneheliches Kind eines Offiziers austrägt und erzieht, so wird sie auch das Gesicht des Nazifilms des 2. Weltkriegs in Heimkehr, dem übelsten deutschen Propagandafilm anlässlich der Übersiedlung der Deutschen aus dem zerfetzten Polen und die tapfere Frau des beginnenden Wiederaufbaus in Späte Liebe in der sie ihren Mann Attila Hörbiger und ihren Sohn als: "Vagabunden der Liebe" bezeichnet. Ich finde in der Bildersammlung meiner Mutter Vorkriegsgesichter ihrer Lehrerin Dr. Kodidek ("Nicht mitzulieben, mitzuhassen bin ich da!" (Antigone), oder ihrer Schulfreundinnen. Ich höre sie noch. Vorkriegswienerisch der gehobenen, jüdischen Schicht – leicht nasal und mit verhauchenden Endungen.
Meine Mama hatte eine Amme, Ida Lampel (Bild) aus St. Veit/Glan in Kärnten. Ihr eigenes Kind Kurt Lampel, das sie ledig empfangen hatte, gab sie zu ihren Eltern und entwich der Schande indem sie in den Dienst nach Wien ging. Ida wurde zur eigentlichen Mutter meiner Mama. Sie stillte sie und liebte sie lebenslang. Kurt hatte ein schwierigeres Schicksal: als lediges Kind mit Schmach und Schande bei den Großeltern aufgewachsen, keinen Besitz und dann eine Lehre als Schlosser. Sechs Jahre Kriegsdienst, russische Gefangenschaft, flotter, fescher Bursche – wenig Beziehungen, keine Ehe, keine Kinder, nur ein Motorrad. Aber das ist nicht das Thema.
Ida mit meiner Mutter und Tante bei einem Spaziergang im Stadtpark, Edith Blumenfeld in einem Hosenanzug, Sylvia – meine Mama – in einem Kleidchen aus demselben Stoff (Bild). War es die Ernährung, war es die Art zu schauen, waren es die "Verhältnisse", oder nur die Art zu fotografieren, die die Gesichter so am Foto aussehen lassen (Bilder)? Ich kann es nicht wissen.
Die Schulfreundinnen am Ausflug am Semmering, Sylvia ist schon 12 Jahre alt, es sind jung-erblühte Frauen, mit europäischen Büstenhaltern aus Leinen, oder Baumwolle. Nylon gab’s noch nicht, die Brüste wurden mehr bedeckt, anders als in den USA und in Europa nach dem Krieg zu spitzen Torpedos geformt. Kann man es ihnen ansehen, oder weiß ich es nur, dass ganz andere Moralvorstellungen herrschten? Vor-, oder außerehelicher Verkehr waren undenkbar, oder führten in die Schande. Keine Verhütungsmethode war damals erfunden, Abtreibung strafbar und der septische Teil der Univ.-Frauenklinik wurde täglich für die Mädchen gebraucht, die eine illegale Abtreibung bei einer Katzelmacherin (illegale Abtreibung mit einer nicht-sterilisierten Stricknadel) hatten machen lassen und zumeist an der bakteriellen Infektion der Gebärmutter starben.
Vorkriegsgesichter: der 1. Weltkrieg vorbei, Hoffnung auf Frieden, stürmische technische Entwicklung (Radio, Telefon, Schallplattenspieler). Projiziere ich die Vorkriegsstimmung, oder wusste man damals schon, dass die Friedensdiktate von St. Germain keinen Frieden bringen würden, trotz W. Wilson und seinen Bemühungen um Ausgleich und Völkerbund?
Das Vorkriegsgesicht: ein Ausdruck in die Unschuld, die Hoffnung und in scheinbar völliger Unkenntnis des Kommenden. Wie oft habe ich gehört, dass man die Nazis nicht ernst nahm, Hitler als Parvenü bezeichnete und seine Mannschaft als deutsches Söldnerheer. Selbst österreichische Juden, die im 1. Weltkrieg ausgezeichnet worden waren, nahmen an, dass sie "geschützt" wurden und konnten ihre Medaillen ins Gas tragen.
Ich lebe: wegen, trotz, oder unabhängig vom Vorkriegsgesicht. Bleiben Sie dran, sie werden es erfahren.