Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich – jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise. Jedenfalls wäre das eine Übersetzung der ersten Zeile aus L. N. Tolstois Roman: Anna Karenina. Die Ehen meiner Eltern und Großeltern waren alle unglücklich – das fiel mir erst dieser Tage auf. Man konnte nicht anders, die Zeit war so, Scheidungen gab’s nur im äußersten Notfall und hinterließen sehr viel verbrannte Erde.
Meine mütterliche Großmutter, die schon wegen des Schreibens dieser Tage viel häufiger bei mir vorbeischaut, Zyska, war ein „altes“ Mädchen. Beinahe 30 Jahre alt, durch Flucht aus Gorlice und die Notwendigkeit ihre ganze Familie finanziell zu versorgen, wurde es 1918 bis sie ans Heiraten denken konnte. Die Heiratsvermittlerin fand Ossias Zuckerberg einen promovierten, bettelarmen feschen Gleichaltrigen. Die Zuckerbergs hatten durch die Auflösung der K.K. österr.- ungarischen Monarchie ihre Petroleumfelder verloren. Oskar Blumenfeld hieß der junge Offiziersanwärter nun, weil er auch offiziell den Vatersnamen trug. Er war frisch abgerüsteter Rechtspfleger und stand vor dem Nichts. Zyska hatte Kriegsanleihen zwischen Prag und Wien geschmuggelt – in Wien wurden sie noch zum Nominale gehandelt, in Prag wurden sie wie Papier gehandelt. Dafür brachte Oma Gold und Valuten von Wien nach Prag. Dadurch war sie fast wohlhabend und Opa heiratete das „alte Mädchen“. Oma war zuerst heilfroh, aber Sex war nicht ihr Ding und der tolle Feschak wollte eine Frau und einen Sohn. Er bekam zwei Töchter und lebte dann mit Minna, einer Freundin. Beide waren unglücklich. Die Oma, weil sie einen soliden Mann wollte; Opa, weil er – vom Feld und seinem guten Aussehen verwöhnt – eine junge, fesche Frau wollte. Sie liebten einander nicht und so sollte es die nächsten Jahrzehnte bleiben. Zwei Töchter erlebten das Unglück und machten es also gleich nach: Meine Mama, Sylvia, heiratete den von ihrer älteren Schwester abgelehnten Verehrer (meinen Vater) Kurt, der zwar ein lässiger Hund war und ein Soldat, aber zu wenig gebildet und zu großkotzig. Edith, die Ältere, nicht faul, heiratete ihren Cousin gleichen Namens (auch Blumenfeld), damit es nicht hieß sie sei übergeblieben. Edith ließ sich nach einem Jahr scheiden, bei meiner Mama dauerte es immerhin 18 Jahre, Daphne war 9 und ich fünf, als die Scheidung es begann, die sechs Jahre dauerte und voll von Unterstellungen war und dem Versuch dem jeweils anderen das Leben schwer zu machen.
Ganz anders auf der väterlichen Seite: Berthold heiratete Ida, weil er das richtig fand. Sie konnte wunderbar singen, hatte schönes, langes blondes Haar und war eine kleine, aber bakschierliche Frau. Beim Heimaturlaub 1917 bescherte er ihr den einzigen Sohn Kurt und vermischte ihn mit Tripper, den er sich an der russischen Front geholt hatte. Seither verkehrte Ida mit ihm nicht mehr, so heißt’s. Sie blieben immer zusammen, hatten immer wieder gemeinsam wirtschaftlichen Erfolg, sowohl in Wien, als auch in Palästina. Allerdings brachte sie das nicht näher zusammen. Vielleicht dachte man auch, dass das so sein muss – Unglück ist Ehe. Berthold hatte dann in Wien nach 1953, nach der Rückkehr, eine Zweitfamilie mit Paula und zwei Töchtern.
In meiner Generation setzte sich das fort: Ich heiratete Ingeborg, die mir zwei wunderbare Töchter geschenkt hat. Ingeborg sagte vor der Hochzeit: Ob wir jetzt heiraten, oder uns trennen ist eigentlich dasselbe. Was wir besser machten: wir trennten uns als Ehepaar und sind Freunde geblieben. Ebenso Marguerite: sie heiratete Christoph, hat mit ihm drei tolle Kinder und es ging doch nicht.
Gestern als ich die wunderbare Aufführung: Pethesilea von H. v. Kleist aufgeführt von dem außerordentlichen Paar Steinbauer & Dombrowski im Café Kaiserfeld in Graz sah, stieß mir das wieder auf. Die meisten Ehen werden inkonkludent geschlossen, wie mein Trauzeuge der ersten Eheschließung sagte: man nimmt zu wenig Rücksicht darauf, dass die Welt anders ist, als die Liebe. Die Liebe, wie bei Pethesilea, würde eine Vereinigung zwingend erforderlich machen. Die Verhältnisse, wie das auch J. P. Sartre in seinem wunderbaren Theaterstück: das Spiel ist aus, zeigt, sind aber stärker und brechen die Liebe. Pethesilea zerreißt den sich ihr als Verliebter nähernden Apoll, weil sie eben eine Kriegskönigin eines Frauenstaats ist, in dem die neu geborenen Knaben in den Wald ausgesetzt werden und sich die rechte Brust rausreißen, um den Bogen bedienen zu können. Beider Versuch sich anders zu geben, als es die Verhältnisse wollen, scheitern.
Vielleicht sind nicht alle Ehen unglücklich. Die, die es sind, sollten aufgelöst werden. Das Leben des Elends, das meine Vorfahren gelebt haben, lehne ich ab.