Also da war sie nun: angekommen im heiligen Land. Alles war anders: überall Wüste. Tel-Aviv – Frühlingshügel – reichte nicht einmal bis zu dem kleinen Gerinnsel Yarkon, den man im Nahen Osten Fluss nannte. Sie wohnte mit zwei Cousinen bei ihrem Onkel Isak am nördlichsten Rand der jungen Stadt. Es gab nichts was sie gewohnt war: keine Köchin, kein Stubenmädel, keine Privatschule, keine Urlaube, keinen Alltag und kein Geld. Dafür Zeit, Zeit, Zeit. Die Schule in die sie eingeschrieben wurde unterrichte in Ivrit. Sie kannte die moderne Sprache der Juden nicht. Dort wo sie wohnte war Deutsch die Alltagssprache.
Sylvia, meine Mutter konnte nach einer Anlehre in Tel Aviv nicht in die Schule beziehungsweise in die Universität gehen, sondern musste arbeiten. Mein Vater Kurt wurde zuerst Barmann, dann Soldat, später Busfahrer, meine Mutter Lehrling in einem Souvenirladen. Sie heirateten jung. Es war beider einzige Möglichkeit dem tristen Elternhaus zu entfliehen in dem fast nur über Probleme des Exils gesprochen wurde. Der Vater Oskar lebte mir Minna und seine beiden erwachsenen Töchter durften Minna nicht einmal begrüßen, sonst schrie meine Oma Szyska. Waren die Töchter bei ihrer Mutter so mussten sie mitansehen, wie diese über die Straße Vaters Lebensgefährtin Hure schimpfte. Außerdem betrieb Oma einen Mittagstisch, der zumeist von Exilösterreichern aus allen Kronländern besucht wurde und kochte sehr, sehr ungern und umständlich. Sie schimpfte dabei, warf alle Reste in die Toilette die immer wieder verstopfte, Exkremente mischten sich mit Salatblättern und als die Gäste gegangen waren, war Oma todmüde und deprimiert – das Geld würde für den nächsten Tag nicht ausreichen, sie würden alle verhungern und der böse Mann verschwendete das Wenige, das geblieben war – mit der Hure. Da blieb beiden Mädchen, 18 und 24 Jahre alt nur eins: Flucht – diesmal aus dem Elternaus.
Meine Mutter war bei der Hochzeit 18, mein Vater 24. Für beide war es keine gute Heirat. Wie meine Mama immer sagte, passten sie sexuell gut zusammen, aber sie liebten einander nicht. Kurt hatte eigentlich Edith wollen und war abgewiesen worden. Ima war in Michael verliebt, der an der Front stand und 17 Jahre älter als sie war. Ima mochte die Art meines Vaters nicht: leicht besserwisserisch, etwas hochmütig und so als ob er etwas Besseres wäre. Herablassend mit Kellnern und Personal generell, selbst in Israel wo er so wenig hatte, wie alle anderen. Die anderen Menschen prüfend, so tun als ob er mehr wüsste, leider in nichts wirklich begabt, außer Autofahren, essen und trinken. Kurt konnte an der romantischen Seite Imas nicht anschließen: Gedichte, Tagebücher, Träume – deutsche Romantik war nicht seins und durch die Nazis, die Rilke, Hölderlin und die Klassiker aufs Schild hoben, waren sie ihm noch unsympathischer.
Sie heirateten in einer gefährlichen Zeit: Die Nazis standen bei Tobruk, jeden Tag erwarteten die geflüchteten Juden aus Deutschland und Österreich eine Wiederkehr der Schrecken, denen sie unter großen Opfern mit alten, kaputten Schiffen entflohen waren. Wenn die Deutschen in Nordafrika siegten, dann würde in ihrem Schlepptau die Judenmörder sein, die SS, die GESTAPO. Dann wäre Palästina eine Falle und die Engländer würden keinen Finger rühren, um einen Juden zu retten. Es war wie es immer mit Flüchtlingen ist, damals wie heute: niemand wollte schon bisher die flüchtenden Juden aufnehmen, erst recht nicht, wenn das Empire die Schlacht verlöre. Selbst wenn Jemand sich um die Juden kümmern wollte, auch da war es wir heute: Menschen und ganze Staaten bezweifelten, dass Nazis die Juden ermorden würden. Es gab also nur Sieg und so war mein Vater, mein Großonkel Hermann, meine Großtante – alle in der englischen Armee, meist im jüdischen Korps.
Tatsächlich wollten die Nazis die Juden anfangs nicht ermorden. Man wollte sie aussiedeln, eventuell auch an reiche Juden und jüdische Organisationen verkaufen, das Reich judenrein machen, aber töten wurde als außerhalb der Möglichkeiten angesehen. Erst in der Wannseekonferenz, weil Niemand sie nehmen wollte, sie nirgends Unterschlupf fanden, kamen die Nazis 1942zu dieser letzten Konsequenz angeblich auf Vorschlag R. Heydrichs.
Nach Palästina, wie das britische Mandatsgebiet des Völkerbunds hieß, kamen aus der ehemaligen Heimat Schreckensmeldungen. Erste Meldungen von Massentötungen in Konzentrationslagern, die furchtbaren Zustände in Ghettos und Judenverfolgungen ungeahnten Ausmaßes. Denn die alten Verfolgungen waren Progrome gewesen, schrecklich in ihren Ausmaßen, furchtbar in ihren Folgen, aber seit 1492 nie mehr so systematisch, nie mehr so flächendeckend, nie mehr so total.
In meinem Fall konnte meine Großmutter Syzka noch entkommen, obwohl sie bis nach der sog. Reichskristallnacht (dem Novemberpogrom 1939) im Wien geblieben war, um jede Woche 10 Reichsmark (RM) nach Israel zu schicken. Überdies wollte sie ihre Eltern nicht verlassen die über achtzigjährig 1943 in Theresienstadt starben, oder ermordet wurden. Meine Eltern arbeiteten beide in Israel und hatten Spaß, einfach weil sie jung waren. Der Vater nahm an zwei Kriegen aktiv teil: zuerst als Soldat in der jüdischen Brigade des englischen Militärs bei der Royal Air Force als Tankwagenfahrer, dann als Koch in der jungen israelischen Armee. Er war sein Leben lang stolz, dass er so genau mit dem Anhänger, der mit hochexplosivem Kerosin befüllt war, unter ein Flugzeug fahren konnte, dass die starren Rohre auf Millimeter genau passten. Alles andere hätte zu einer Explosion des auslaufenden Benzins geführt. Nach dem Abrüsten aus der englischen Armee 1945 hatten die Eltern die besten Ehejahre. 1947 wurde meine Mutter zu meiner Schwester Daphne schwanger, die Eltern zogen nach Bat Yam, das damals aus Hütten bestand und in dem die väterlichen Großeltern das Restaurant Amon betrieben. Auf einem Sandhügel war die schwangere Frau eingesperrt, die sich mit ihrer Schwiegermutter nicht verstand. Mein Vater arbeitete als Barmann am Toten Meer in einem noblen Hotel in dem britische Truppen Urlaub machten und viel Whiskey tranken. Da Vater gern trank und der Besitzer die Zahl der ausgeschenkten Drinks mittels Striches auf der Flasche kontrollierte, streckte er den Whisky mit Wasser – Betrunkene merken das oft nicht, vor allem wenn sie on the rocks trinken. Heute ist die Bar in dem einst prachtvollen Hotel am nördlichen Ende des Toten Meers eine Ruine. Nur an den Wochenenden kam Vater nach Bat Yam und half im Restaurant seiner Eltern aus, Mutter wollte zurück nach Tel Aviv. Goscha war zwar freundlichst, mochte Ima immer gerne, aber Irma war feindselig, nett zu Daphne und keine Ansprache. Meist jammerte sie, nicht nur in Israel, sondern lebenslang. Mutter setzte sich durch, sie wäre auch ohne Papa übersiedelt. Eine kleine Wohnung wurde im Norden Tel-Avivs gefunden, Papa wurde Busfahrer (schlechte Karriere für einen Trinker) Mutter arbeitete, soweit sie konnte war zuerst bei der Schwester, dann ab 1951 war sie Mutter zweier Kinder.
Noch bevor man im Stande war die Wohnverhältnisse zu verbessern wurde 1948 Israel als Staat, nach dem Beschluss der Vereinten Nationen, proklamiert. Alle angrenzenden arabischen Staaten wollten Israel nicht und begannen den Krieg. Ziel des Kriegs war die Vernichtung der Juden auf dem Gebiet des ehemaligen Mandatsgebiets war. Nur durch Seine Hilfe gelang das Vorhaben nicht. Meine Mama trommelte zum Beispiel in Bat Yam auf umgedrehte, leere Töpfe, um so den Klang von Mörsern zu imitieren. Solche Improvisationen waren kriegstechnische Einfälle, die das Land retteten. Der judenfeindliche Mufti von Jerusalem, der sich als Hitlers Statthalter in Palästina gesehen hatte, gab die Warnung aus, dass Juden Muslime umbringen wollten. Etwa 700.000 muslimische Bürger des englischen Mandatsgebiets mit Namen Palästina verließen ihre Heimat, in der sie seit Jahrhunderten unter türkischer Herrschaft gelebt hatten in Richtung Osten und Süden. Gleichzeitig wiesen die arabischen Staaten, wie Jemen, Syrien, Saudi-Arabien und andere die ebenfalls seit Jahrhunderten dort gelebt habenden Juden aus. Beide Bewegungen waren zahlenmäßig etwa gleich. Während die Araber aber ihre Glaubensgenossen in Lager sperrten und ihnen bis heute keine Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten geben, nahm der neugegründete Staat Israel die Aufnahme und Integration sehr ernst und schuf einen Aufnahmeprozess an dessen Beginn das Erlernen der gemeinsamen „Kunstsprache“ Ivrit, die aus dem biblischen Hebräisch geformt war, stand. Die gemeinsame Sprache sollte nicht aus der Diaspora (den Ländern, in denen die Juden seit dem Jahr 70 der Zeitrechnung verstreut waren), sondern aus dem Land der Väter kommen. Sie sollte für alle neu sein und ihre Identität als Israeli und nicht als ewig herumziehende Juden, erfinden helfen. 2019 sprechen selbst illegale Neueinwanderer aus den schwarzafrikanischen Staaten miteinander Ivrit, wie das israelische Hebräisch genannt wird. Meine Schwester wurde am 20.01.1948 geboren, die Eltern entschlossen sich die neue Staatsbürgerschaft anzunehmen (bisher waren sie als „Reichsflüchtlinge“ staatenlos gewesen) und Israeli zu werden. Mein Vater wurde Koch in bei den neugegründeten israelischen Streitkräften im Rang eines Unteroffiziers. Leider wurde er rund um meine Geburt 1951 unehrenhaft entlassen, weil er seine Familie ernähren wollte und zwei Hühner stahl. Nach dem kurzen, aber heftigen Staatsgründungskrieg 1948 kamen Jahre wirtschaftlicher Depression. Keine fremden Soldaten mehr im Lande. Die fixe Idee des jungen Staats war es, dass die Art des Juden auf ewiger Wanderschaft und Flucht zu sein, nun ein Ende haben müsse. So war die Landwirtschaft, die Bebauung des erstmals seit Jahrhunderten wieder eigenen Grund und Bodens das Tolle und das Ziel eines jüdischen Arbeiter- und Bauernstaats. (Was mit der Mehrheit der Sozialisten im Parlament (Knesset) wohl auch zu tun gehabt haben dürfte.) Die Landwirtschaft, der eigene Boden wäre das, was den Juden zu einem normalen Menschen, sogar zu einem Träger der Ideale der alten Schriften machen würde. Allerdings war der Boden Sand und Wasser ein rares Gut. Armut, Kriegswirtschaft mit Essensbezugsmarken und Abhängigkeit vom Ausland waren die unmittelbaren Folgen.