1948 waren meine Eltern echte Israeli. Sie sprachen zwar zu Hause ausschließlich Deutsch, aber mein Vater konnte fließend Ivrit und meine Mama verwandte es in der Öffentlichkeit. Der neugegründete Staat hatte es nicht leicht: wenig befreundete Staaten, kaum Industrie, entstehende Landwirtschaft, die der größte Teil der Staatsausgaben für die Sicherung der Außengrenzen. Schon begannen erste Immigranten, wie meine Großeltern in die „verbrannte Medine“ in ihre Heimat, die sie ausgestoßen hatte, in der Judenhass weiterhin geduldet war und in der so viele ihrer Geschwister, Nichten und Neffen und vor allem ihre Eltern ermordet worden waren, zurückzugehen. Der Zug nach Europa war stark. Auswanderung nach Kanada wie es Imas Cousin Wowek Nattel machte, der in Kanada ein Erfinder wurde. Er war 1947 als Displaced Person (DP) aus der BRD nach Israel gekommen war und arbeitete in Tel Aviv als Eisendreher. Die Hitze war ihm unerträglich, er war vier Jahre als Häftling in mehreren KZs am Verbressnungsofen gestanden. Die europäische Kultur, die Heimat das zog die anderen, wie meine Familie! Wowek hingegen machte in Kanada sein Glück, wurde wohlhabend und seine drei Kinder machten außergewöhliche Karrieren: der Sohn Stanley weltberühmter Kardiologe, Irene erfolgreiche Bankerin und ihre Schwester Lillian Autorin von Weltbestsellern. Was für ein Erfolg!
Die reschen Semmeln und die Natur zogen meine Eltern leider nach Österreich – man muss nur Ernst Lothars: „Das Wunder des Überlebens“ lesen, um zu wissen, was Heimweh bedeutet – unabhängig von den Verletzungen. Oder wie Doron Rabinovici in Andernorts beschreibt: Die Mutter sagte bei jedem Fußgänger, der vor ihrem Auto die Straße querte: „Führ‘ ihn nieder!“ Der Bub schrie mit, er fand das lustig. Der Vater aber geleitete den Mann mit offener Hand über die Straße. Meine Oma hingegen sagte immer, wenn sie ein Huhn auf einer burgenländischen Straße sah: „Chap es!“ Bei uns ging’s daher nur um Hendl und nicht um alte Nazis, oder die, die man dafür hielt.
Mit dem Ende des 2. Weltkriegs begann allerdings die wirtschaftliche Verschlechterung im britischen Mandatsgebiet Palästina. Die Versuche jüdischer Terrorgruppen die englische Besatzung zu bekämpfen, wären an sich nach der Balfour Deklaration (1917) schon unnötig geworden. Den Juden war, so glaubten sie, von den Briten ein eigener Staat versprochen worden. Allerdings spielten die Briten doppelt und versprachen dasselbe den Arabern, die sich fortan „Palästinenser“ nannten. So dauerte es bis 1948 bis ein Beschluss der UNO auf dem Boden des britischen Mandatsgebiets einen allerdings kleinen und zerstückelten Streifen Land als jüdischen Staat benannten, der nie lebensfähig gewesen wäre (Ähnliches stellt der Trump Plan 2019 aus der Sicht der Araber dar.). Am 14.05. 1948 wurde der Staat Israel gegründet am 21.01. meine Schwester geboren. In ihrem ersten Lebensjahr gab es Krieg, den Staatsgründungskrieg.
Die arabischen Staaten akzeptierten den UNO Beschluss der Gründung Israels nicht (was bis heute gleichgeblieben ist) und überfielen das fast wehrlose Land mit großer numerischer Übermacht. Unmittelbar nach diesem Krieg, der aus militärischer Sicht nicht zu gewinnen war, aber gewonnen wurde, wurden meine Eltern israelische Staatsbürger. 1951 wurde ich als Israeli in Tel-Aviv geboren, in einen jungen Staat mit etwa zwei Millionen jüdischen und fast gleichviel arabischen Einwohnern. Das Einkommen des Vaters als Teil einer gemeinschaftlichen Busfahrergemeinschaft (Drom Yehuda) reichte nicht zum Leben. Essen gab‘s nur auf Marken, Milch war rationiert und meine Mama kochte Suppe aus den Hühnerabfällen. Meine Schwester beobachte wie die Mama nach dem Abservieren in der Küche die kleinen Hühnerknochen zerbiss. Als die Schwester das nächste Mal aufgegessen hatte (und sie reinigte lebenslang die Hühnerknochen bis sie wie ein Präparat aus der Anatomie aussahen), bot sie ihre abgenagten Knochen der Mama mit den Worten: „Da, Ima, die Knochen für Dich!“, an. Beschämt wegen ihres Hungers wollte meine Mama arbeiten gehen. Die wirtschaftliche Lage war extrem schlecht, es gab und gibt keinen Handel mit den Nachbarstaaten und die Konzentration auf Landwirtschaft in einem wasserarmen Land, trug zu Arbeitslosigkeit und Armut bei. Der dauernder Einstrom mittelloser Juden aus deutschen und europäischen Lagern (sogenannten Displaced Persons (DP)), denen Heim und Essen gegeben werden musste, die Aufrechterhaltung einer Armee, die das Lebensrecht Israels jeden Tag an den Grenzen verteidigen musste, sowie der Mangel an Rohstoffen, die eine Industrie hätten begründen können, führte zu Mangel an allem. Die Depression wurde durch die Freude relativiert, dass man die Shoa überlebt hatte und dem Aufbauwillen.
Die Israeli nannten sich „Sabres“ sich so mit einer Kaktusfrucht vergleichend, die innen süß ist und außen stachelig. Sie fühlten sich in der Geschichte der Diaspora (denn diese dauert nach dem jüdisch-religiösen Verständnis bis zur Ankunft des Messias und der Wiedererrichtung des salomonischen Tempels an) erstmals seit der Zerstörung des. 2. (herodianischen) Tempels und der Vernichtung Jerusalems durch Titus im Jahre 70 der Zeitrechnung, als freie Juden. Der angebliche, innere Feind war der Galutjude, der jahrhundertelang in europäischen Ländern verstreute Jude, arm, geknechtet, schmutzig, der durch das unverdrossene Lernen der strengen Thora noch existierte. Das Jiddische und die Angst vor Verfolgung, der ständige Versuch unauffällig zu bleiben, um nicht Opfer eines Pogroms zu werden – das war in Israel der „jüdische“ Feind, der mit der neuerfundenen Sprache und der Definition des stolzem, kämpferischen Menschen besiegt werden sollte. In diese Zeit wurde ich geboren. Damals waren bauchige, würdig aussehende, umfassend gebildete Juden aus Europa an der Macht, die die Zeichen des Galuts mitbrachten, wie Bildung und Angst. In offenen Hemden und Arbeiterblusen zeigten sie sich als neue Führer der israelischen Juden, Vorbilder für die Transformation des Geknechteten zum Kämpfer.
Es waren Männer wie David Ben-Gurion, erster Ministerpräsident des Staates, Chaim Weizmann, der die Präsidentschaft Israels statt Albert Einstein übernahm. Weizmann erkannte (unter anderem mit Hilfe meines Schwiegervaters J. D. Dunitz und seinem Freund Max Perutz, die eine fact finding mission Anfangs der fünfziger Jahre in Israel gemacht hatten), dass das einzige „Produktionsmittel“ in Israel geistiges Potential ist. Sonst gibt‘s nur Sand. Also wurde nebst den Universitäten, wie die 1919 in Jerusalem gegründete und dem Technion in Haifa das wissenschaftliche Weizmann Institut in Rechovot gegründet. Zuletzt entstand im Negev auf Initiative Ben-Gurions eine Universität gegründet, die heute eine Speerspitze des israelischen IT-Wunders ist. Alle konnten Spenden von Juden aus der ganzen Welt einwerben.
Lustig ist die Geschichte der Nobelpreisträgerin Ada Yonat, die die Struktur der Ribosomen aufklärte: sie sah eine Frau offensichtlich suchend auf dem Technion Campus. Diese amerikanische Frau wollte nach dem Willen ihres verstorbenen Mannes ein große Summe dem Institut für Mathematik schenken. Allerdings waren im Frühsommer alle Professoren in USA. So kam Ada mit der Dame ins Gespräch, die spendete den Betrag für Adas Forschungen und durch den außerordentlichen Einsatz der persönlich bescheidenen Frau, wurde das Unmögliche möglich – die Funktionsweise der Ribosomen wurde aufgeklärt. Mit gefällt am besten, dass Ada 14 Jahre in einem Audi A 3 Combi mit Schäferhund lebte, weil sie die Proben in Hamburg herstellte und in Berlin mittels Elektronenmikroskop und Röntgen analysierte, aber nicht im Max Plank Institut am Boden schlafen durfte (gegen die Regeln) und daher gezwungen war, im Auto zu übernachten. Sie konnte die Proben nicht außer Augen lassen, der von ihr zur Vermessung erzeugte Kristall war so instabil, dass sie ihn immer im Auge haben musste.
Als Ada zur Verleihung des von mir initiierten Otto-Loewy Gedächtnisvorlesung als Leistung des David Herzog Fonds kam, war ihr Gepäck in Wien verblieben. Sie war verzweifelt. Ihre schönen Schuhe fehlten und sie hatte nur Clogs aus Plastik in schwarz an den Füßen. In letztem Moment kam ihr kleines Köfferchen noch an: dort hatte sie die gleichen Clogs allerdings mit Swarowskisteinchen – das war der Nobelschuh. Leider führt sie diese Ehrung nicht auf ihrer Homepage, obwohl ich den israelischen Botschafter, den zuständigen Landesrat und den Bürgermeister zur Ehrung hinbrachte. Sicher der größte Auftritt den David Herzog Fonds, dem ich von 1989 – 2018 in verschiedenen Funktionen angehörte. Diese Vorlesung hat meine Tätigkeit an der Medizinischen Universität Graz überlebt und wird zweijährlich vom Forschungsrat vergeben.
In den israelischen Universitäten wurde der Grundstein zu dem heutigen „Wunder“ im Bereich der start-ups und der Kompetenz in Cybersecurity gelegt. Meine Eltern warteten nicht so lange. Sie verließen Israel 1954 – lange vor dem Aufschwung. Israel lebte in den frühen fünfziger Jahren vor allem vom Verkauf der Jaffa Orangen nach USA und in ein notleidendes Europa, das die Hesperidenfrüchte
fast nur aus der Herkulessage kannte. In den besiegten Ländern Deutschland und Österreich profitierte vom Marshall Plan, aber bis das und vieles anderes zum Wirtschaftsaufschwung führte dauerte es noch bis 1963. Ludwig Erhardt der Mann mit der dicken Zigarre und seinem quergescheitelten Haar war das Symbol des deutschen Wiederaufbaus in dem geteilten Deutschland. Man begann Urlaub in Italien zu machen, man hatte einen DKW mit Dachträger und Heinz Erhardt, der lustigste Kabarettist der Zeit war das alter ego des Wirtschaftsministers. Er genoss den Wirtschaftsaufschwung und war zugleich sein verzweifelter Verlierer.
In Israel gab’s noch keine Reparationszahlungen aus dem Deutschland des Amtsvorgängers Erhardts Konrad Adenauer, die in den frühen sechziger Jahren begannen. Vorher waren die Deutschen zu arm, die Juden wollten von den Deutschen nichts annehmen. Dann aber bekamen Juden, die in deutschen Lagern gewesen waren, eine Pension, die zum Aufschwung Israels beitrug. Der Stolz der Deutschen auf das kämpferische Israel war auf die tapferen Soldaten und den gewonnen Staatsgründungskrieg 1948 zurückzuführen. Zu dieser Zeit kannte niemand „Palästinenser“ und deren Schicksal als politische Geiseln der arabischen Liga bis 2020, sondern die Emotionen Deutschlands waren auf Seiten Israels. Der Sieg der Israeli reduzierte vielleicht auch, nebst den das deutsche Schuldgefühl.