Samstag, 8.Februar 2020 - Seetag 3 zwischen Valparaiso und der Osterinsel

Erfolge

Welche Erfolge kann es noch geben, wenn nur mehr der Genuss erlaubt ist? Wenn das Genießen zur Pflicht wird? Die Mitreisenden vergällen sich den Tag mit düsteren Zukunftsaussichten: derzeit ist es das Coronovirus aus Südostasien, das in Unkenntnis der Virologie gefürchtet wird. So als ob man schon in Quarantäne vor Japan läge, wie derzeit zwei andere Schiffe. Im Zukunftspessimismus werden Mitreisende zu Feinden, das Leben schwer, aber letzte Ängste lassen sich durch die konkreten Ängste übertönen – nehme ich an.

Der Tag beginnt schlecht. Doch wieder Alkohol getrunken, zu früh schlafen gegangen, mich nicht für Karneval verkleidet, wie das Diario de Bordo vorgeschrieben hätte. Also ab fünf Uhr früh wach, ein wenig dösen, M. spüren – was immer schön ist. Draußen ist schwarze Nacht, M. sagt, dass das so ist, weil wir in den Westen fahren, weg von der aufgehenden Sonne. So ist’s sicher. 

Um ½ 7 endlich auf Deck 11, Windstärke 39,2 Knoten. Daniela, die serbische Masseurin, kann nicht wie alle anderen Tage auf Deck rauchen, sie raucht stattdessen in der Duschkabine, um die Zigarette nicht an den Wind zu verschwenden. Ich gehe Runden, mit und gegen den Wind, die Sonne zeigt sich kurz hinter den Wolken, Menschen machen Fotos, die nicht das zeigen werden, was wir sehen. Automatisch blenden wir zum Beispiel das Schiff aus, wir haben andere Filter als Telefone. (Wir glauben sogar keinen Filter zu haben, weil der Filter Teil unseres Selbst ist.).

Devin quält mich eine ½ Stunde, M. schaut zu und lächelt. Heute war der Bizeps und der Pectoralis major dran. Eine Banane mit Zitronenwasser als Frühstück, Sprudeln mit Walter,  danach Prof. Scopelliti. Ich weiß nicht inwieweit Sie an der Osterinsel interessiert sind? An den Moai, an der ökologischen Katastrophe durch Abholzen aller Bäume, oder an dem Verbleib der verhungernden Bevölkerung vor der Inbesitznahme der Insel durch die Holländer. Ein alter Kupferstich wird gezeigt, wo ein Matrose sich für ein Mädchen interessiert, ein Mann einen Moai vermisst und ein Eingeborener währenddessen die Tasche des Forschers stiehlt. Keine ganz objektive Widergabe der Ereignisse, aber immerhin sehen wir eine Ansicht aus der Zeit der Inbesitznahme. Scopelliti schließt daraus, dass manche Artefakte durch Gegenstände der Europäer verändert wurden, wieso – das werde ich nie erfahren. Der Professor schätzt Post-colloquien nicht, er hat seinen nächsten Vortrag in Französisch fünf Minuten nach dem deutschen. Überdies sollten die Eingeborenen gern das bestätigt haben, was sie als gewünschte Antworten vermuteten. So hätten sie behauptet die Schriftsprache der Alten zu kennen, was aber nicht stimmt. Erwünschte Antworten geben – dasselbe Phänomen kennen ich von Fragebogenbefragungen.

M. hat einen vollen Tag: sie ist die Klavierbegleitung des Chors, sie übersetzt den schweizerischen Chorleiter in drei Sprachen, sie ist die Leitung. DAS kann sie. Sie macht überhaupt Dinge, die sie kann: singen, Klavierspielen, Massagen erhalten, aber wenig Dinge, von denen sie weiß, dass sie versagen wird.

M. schläft so ruhig wie schon seit Jahren nicht. Sie sagt, dass sie jahrzehntelangen Schlaf nachholt. Meine Oma meinte aber, dass man Schlaf nach dem Tod nachholen könnte.

Heute hat unsere Abendessensrunde ein nobles Mittagessen im 10. Stock vereinbart. Mir ist das wegen Alfred und Jaqueline peinlich. Wir wollten in einem anderen Raum sitzen als sie, tatsächlich sind wir aber am Nebentisch. Alfred und Jaqueline reden wenig, Marguerite begrüßt sie sehr nett, ich nicht, ich hätte sie zu dem Tisch eingeladen. Ich bin für Inklusion und es war ohnehin ein langer Tisch, so dass jeder ohnehin nur mit seinem Nachbarn reden konnten.

Was es sonst noch gibt: Mit Hans Jonas wird mein Verhältnis schlechter, je mehr ich lese. Er ist ungefähr beim 4. Axiom. Wenn er so weitermacht kommt er noch auf 10 Gebote. Wie kann man, nur um dem Existentialismus zu widersprechen, das Sein als richtiger, wichtiger und generell als das Bessere bezeichnen? Schlimm wurde es letzte Nacht: da begegnete ich dem „an sich Guten“, das das Leben sei. Das Leben, das leben und sich fortpflanzen will, sei besser, als das nicht leben. Dahinter, so Jonas, komme man mit keiner Annahme. Die kalte Leere des Weltenalls sein demnach an sich schlechter, das warme Leben besser. Das erinnert mich an einen Satz meiner Kinder in ihrer Pubertät: „Papa, was willst Du? Die kalte Wahrheit, oder die warme Lüge?“ Dann kam eine Schulgeschichte. 

Es ist mir klar, dass man für’s Leben sein kann. Man kann aus dieser Position eine Ethik erstellen, die das Leben, dessen Erhalt und Fortzeugung als das Gute annimmt. Wie man jedoch – bis auf wunderbare Schmankerln, die sich zum Beispiel gegen Kants Annahme, dass alles von der Vernunft gesteuert werden könnte mit dem Argument richten, dass selbst der so berühmt gewordene kantsche Imperativ nicht der Vernunft unterliegt, indem jede ethische Entscheidung Vorbild für Alle werden sollte und so sich des Individuellen begibt und quasi auf der Bühne der Allgemeinheit steht – seine Argumentation so lenken kann, dass zum Schluss das angenommene Gute, eben das Leben, der Leitfaden der Entscheidungen wird und dessen Erhalt in Zukunft den Gegenwärtigen Verantwortung für eine vom Menschen belebte Welt auferlegt, das ist keineswegs besser, als das bei Jonas so schlecht wegkommende Christentum, das sein ethisches Wohlverhalten aus einem imaginären Vertrag mit einem Gott und einer Versprechung auf ein unmittelbar zu erreichendes Paradies nach dem Tod ableitet. Gott hätte diesem Vertrag zugestimmt hat. Ethik ex futuro, die ihre Begründung aus einer durch das jetzige Verhalten gebesserten Zukunft für die Art Mensch ableitet, das scheint Jonas vorzuschlagen. Dass Menschen das gerne hören, verstehe ich. Dass junge Menschen das einfordern, das verstehe ich. Aber, dass das quasi objektiver sein soll, als die anderen Begründungen für Ethik, das kann ich nicht verstehen. Sympathie für eine denkbare Art (=Spezies), die die Weltherrschaft nach unserer Auslöschung übernähme, kann ich bei Jonas keine entdecken. Er ist Partei für unsere Spezies, für die Menschheit. So, jetzt können die, die Philosophie mögen, sich daran erfreuen, dass ich auch undurchdringliche Schachtelsätze bauen kann. Bei den anderen hoffe ich, dass sie es überlesen haben.

Mit einer kleinen Siesta ging‘s weiter. Zweites Sprudelbad mit Besprechung des Ausflugs auf die Osterinsel mit Hotel und den Ängsten, dass wir dort zurückbleiben, weil man zum Beispiel am 2. Tag kein Tenderboot von Land bringen könnte. Ein bisschen Abenteuer. Peter aus Bern bereitet seinen Absprung in Rarotonga vor. Annemarie klagte zu Mittag, dass sie immer das mache, was er sagt. Da schlug ich ihr vor, dass sie ihn ziehen lässt und an Bord bleibt. Das war ein Lacher. So leicht kann man Strukturen durch einen Satz zur Diskussion stellen.

Abends war Gala: zuerst tolle Aufführung unseres Musikdirektors Giovanni mit Cotton Club – M. war begeistert. Zu Recht, es war musikalisch und flott. Ein 75jähriger schlanker, eleganter Mann, erotisch und froh. Professionell und dadurch leichtfüßig, flott. Danach habe ich in der Hauptbar getanzt und endlich, ohne auf meine Füße zu schauen, ohne Hemmungen Spaß gehabt. Plötzlich ging’s.

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