Das lange Erwartete, nun ist es da: die Überleitung zur Innenschau und zur Mystik. Bei meiner Literaturauswahl quasi selbstverständlich. Heute in der Nacht las ich Paulo Coehlo: Der Schutzengel. Am Tag: Hans Jonas: Ethik der Verantwortung und dazwischen den Bericht eines pensionierten Hamburger Schiffskapitäns, der auf den Spuren der Meuterer der Bounty in Pitcairn war, wo wir in Kürze anlegen werden. Anlegen – ja, anlegen, wenn das denn gehen würde. Schon das Tendern wird dort ein Problem werden. So wie auch vor diesem Artikel gewarnt werden muss. Er ist kein äußerlicher Bericht, kaum witzig und mir wichtig. Also Achtung: nur für Bildungsbürger.
Noch schlimmer: Das heutige Anlegen in San Antonio, Chile war wegen des hohen Wellengangs unmöglich. So konnte ich nicht auf den Spuren Pablo Nerudas nach Isla Negra, aber eins habe ich beschlossen: Dieser Blog ist zu lang. Es wird gewarnt.
Zuerst Paulo Coehlos Buch: Schutzengel und seine Auswirkungen auf mich. Das Buch an sich nicht meine Kragenweite, denn dass Jesus – Christus war ist Coehlo selbstverständlich. Im Buch geht‘s um Coehlos Schutzengel seiner Kindheit und um das angeblich offene Tor zum Paradies. Das soll 1983 offen gewesen sein. Coehlo fährt mit seiner Frau in die Mojave Wüste, um seinen Engel zu sehen. So weit so gut. Deswegen wollte ich in die Atacama Wüste, weil ich dachte, dass das Buch dort spielt und nicht in der Nähe von Los Angeles (eben der Stadt der Engel). Das war der erste Fehler.
Laut Coehlo hat jede*r in seiner Kindheit mit dem Engel kommuniziert. Dann wurde der Engel vergessen, passt auf einen auf und sei traurig, weil unbeachtet. Als ich 12 Jahre alt war, beschloss ich nicht erwachsen werden zu wollen. Stattdessen wollte ich weiter mit meinem Statthalter der anderen Welt, Hanik, in Kontakt bleiben, der in meiner Vertretung die Welt der Dämonen und Geister beherrschte, die mir– vor allem abends und nachts – Angst machten. Ich wollte die Verbindung, Coehlo nennt es den „Kanal“, zwischen Tagesbewusstsein und der anderen Welt nicht schließen. Coehlo glaubt zudem, dass wir ein zweites Bewusstsein haben, das sich mit „erwachsenen“ Sorgen beschäftigt und den freien Gedankenfluss stört. Das „zweite Bewusstsein“ wäre die Hintergrundmusik des Gehirns. Es beschäftigt sich, wir beschäftigen uns mit Umständen und Angelegenheiten, die entweder unwichtig sind, oder in der Zukunft, oder der Vergangenheit liegen. So als ob unser innerer Motor noch eine zusätzliche Aufgabe hätte, die Kraft kostet. Ein vielleicht besserer Vergleich wäre der Computer im Netz, der – ohne dass wir das beeinflussen Fotos in die Cloud hochlädt. Vorm Abschalten der Cloud wird gewarnt, vielleicht zu Recht, vielleicht, weil nur so der „Datenklau“ gelingt. Unser Gehirn warnt uns auch, wenn wir das 2. Bewusstsein abschalten, angeblich weil wir dann Gefahren nicht voraussehen.
Peter, mein Tischnachbar, Architekt aus Bern, großer, fescher und sehr erfahrener Mann, der zu Allem etwas weiß, singt fast immer zwischen seinen Sätzen. Da sagt er zum Beispiel: „Der Kurz wird das nicht zulassen,“ als politischen Kommentar und dann summt er. Das Summen, das ist die Äußerung des 2. Bewusstseins. Was er da denkt, nicht sagt und manchmal selbst nicht wahrnimmt ist was im Hintergrund läuft. Es wahrzunehmen und auszusprechen, lässt es verschwinden. Wenn das gelingt vervielfacht sich die Energie, die zur Verfügung steht. Zenschüler zeigen auf, wenn die nutzlosen Gedanken sie bei Meditation stören und bekommen einen Schlag mit einem flachen Holzbrett vom Aufseher auf den Schädel.
Wallküren geben Coelho den entscheidenden Rat mit dessen Hilfe er seinen Engel trifft. Sie reiten auf Pferden – das ist wie im germanischen Original der Edda, aber sie sind Wallküren der New Age und nicht mehr Wotans Töchter. Wer weder die Edda kennt, noch Wagners Ring dem sei verziehen. Man verzeihe auch mir, dass ich nicht die ganze Geschichte erzähle. Ich höre innerlich manchmal den Ruf der Wallküren (Heia, ho!), den R. Wagner komponierte. Sei’s drum. In der Nacht von Sonntag auf Montag, wenn ich von der Stille, oder dem Seegang erwache, oder weil ich sonntags Mittag- und Abendessen esse was ich nicht vertrage – dann lese ich Coehlo und sehne mich nach der leeren, todesbringenden Wüste in der Angst und Erkenntnis so nah beieinander liegen. Im Grunde glaube ich mit meinem Engel gut zu stehen. Sicher, auch ich beachte ihn zu wenig. Mag sein, dass das daran glauben ihm Kraft gibt. Jedenfalls sehe und verstehe ich manches, was ich nicht verstehe. Wenn ich mit dem Mitreisenden Salomon in meinem radebrechenden Französisch spreche, verstehe ich viel mehr von dem was er sagt (und ich nehme an auch umgekehrt), als ich sagen kann. Eins kann ich sagen: glaubt man an seinen Engel, dann gibt’s ihn.
Nun aber vom sentimentalen Brasilianer mit christlichen Wurzeln zum jüdischen Philosophen und Heidegger Schüler Hans Jonas, der eine Ethik der Verantwortung geschrieben hat. Diese Ethik soll maßgebend für eine Zeit sein, in der die Menschheit erstmals die Möglichkeit hat, sich, aber auch die gesamte Welt zu verändern, ja sogar umzubringen.
Hans Jonas ist ein Rosstäuscher, aber ein guter. Er schreibt zuerst, dass Ethik sich nie aus der Zukunft ableiten darf. Also man darf nicht hienieden gottesfürchtig und nach Seinen Gesetzen leben, um nach dem Tod ins Paradies zu kommen, was lange Zeit das Ethos bestimmt hat. Dann aber der Trick: er setzt die Menschheit und ihren Erhalt als Axiom ein. Es sei klar, dass man den Erhalt der Menschheit gut findet. (Am Schwersten ist es von der Philosophensprache zu einer allgemein verständlichen Sprache zu übersetzen. Das merke ich, wenn ich berichten will.) Warum der Erhalt der Menschheit gut und wichtig ist bleibt offen. Letzten Endes so offen wie Kants „Ding an sich“ oder Gott. Jetzt kommt’s: Erst wenn man annimmt, dass das wichtig und gut ist und nicht denkt, dass nach den Dinosauriern wir kamen (mit einigen Jahrmillionen Abstand) und danach wieder irgendwas kommen wird, was vielleicht viel besser sein wird, erst dann kann man sein Verhalten Heute im Hinblick auf die Zukunft der Menschheit verbessern, Müll sammeln, oder weniger fossile Energie verbrauchen wollen.
Da aber die Menschheit momentan nicht gefährdet ist, sondern es ihr besser als jemals geht, kann die Verhaltensänderung nur aus den kommenden Schrecken wie Klimaerwärmung, Cyberborg und Datenmanipulation begründet werden. Dies könnte man, so Jonas zum Beispiel durch verantwortlichen Umgang mit Änderungen an Genomen machen, oder auch durch ein Leben, das die Natur nicht zerstören. Hier am Schiff bin ich ein Feind dieser Ethik. Angeblich zerstören die Ozeanriesen die Meere, den Urgrund des Seins. Ob der Transport, die Verköstigung und die Unterhaltung von knapp 2000 alten Menschen anders weniger schädlich wäre, ist mir nicht bekannt. Für den Nachwuchs wäre es am besten, wenn sie in ihren kalten Ländern blieben und stürben. Denn das Versprechen Unsterblichkeit zu ermöglichen, würde zwar von vielen meiner Mitreisenden angenommen, sie könnten es sich auch leisten, aber wenn es denn Erfolg hätte, wäre Nachwuchs verhindert. Platz und Ressourcen sind begrenzt, insofern ist der Friday for Future auch ein Kampf der Jungen gegen die Alten. Unsterblichkeit wäre vielleicht im Interesse der Lebenden, aber nicht dem der Menschheit, die vergreisen würde und erstickte. Trotzdem: warum soll ich zu Hause bleiben und mein Geld den Jungen schenken, um deren Zukunft zu unterstützen? Wieso soll ich die Forschung am Genom verbieten, wenn sie mir ein besseres und längeres Leben verspricht? Im „alten Geschäft“ zumindest mit dem röm.-kath. Gott war für ethisches Verhalten noch das Himmelreich zugesagt. Was ist mein Lohn? Dass meine Enkel gut leben und sie nicht nur eine Kindheit ohne Hunger und mit wenigen Einschränkungen haben, sondern auch noch eine tollet Zukunft auf meine Kosten? Denn durch mein Ethos verhindere ich doch auch, dass die Menschheit neue Lösungen für die großen Fragen findet. So wie wir Antworten auf die Nachkriegssituation finden mussten, so wie zum Beispiel mein Geburtsland Israel seine Ökonomie von Landwirtschaft auf Intelligenz umstellen musste, solche Lösungen brauchen dann nicht mehr gefunden werden, weil meine Generation verzichtet hat? Eine Verdummung der Menschheit. Wenn sie ihre Herausforderungen nicht mehr bewältigen kann, wozu sollte sie dann noch sein?
Da mag ich den ungarischstämmigen Physiknobelpreisträger und Erfinder des Holograms Denis Gabor mehr, der die Langeweile als die größte und unerkannte Gefahr für die Menschheit angesehen hat. Das ist eine Herausforderung, die schwer zu bewältigen sein wird. Ob Handy, Gaming und dauernde Kommunikation orts- und kostenunabhängig eine Antwort sind, wird sich zeigen. Aber immerhin – vielleicht bewältigbar. Isaac Asimov, mein Lieblingsautor hat der Menschheit in seinen SF-Romanen große Kreativität bei der Lösung neuer Herausforderungen zugesprochen. In seinem Vermächtnisbuch: „Das Ende der Ewigkeit“ hat er zwei mögliche Fehler anprangert: Beendigung aller Kriege (Krieg = Selektion der Besten), Beendigung der Weltraumeroberung. Beide würden zum Untergang der Menschheit führen. Witzig ist, dass er als Jude in fast jeder Geschichte einen „Auserwählten“ hat, einen Messias – aber das ist eine andere Geschichte.
In jüngerer Zeit begeisterte mich Dan Browns Roman: Infection in dem er eine kreative und schmerzlose Lösung für das Problem der Überbevölkerung erfand: ein Laborvirus, das die Sterilisierung eines Drittels der Menschheit bewirkt. Das würde zum Ende des exponentiellen Wachstums der Art führen würde. Allerdings will niemand seine Fruchtbarkeit selbst beenden, wie der chinesische Massenversuch gezeigt hat, also hat Dan Brown Recht, dass das nur mittels eines verrückten Forschers gelingen kann. (Der Film geht an dem vorbei und ist daher schlecht.)
Kreative Lösungen sind gefragt, statt einer Zukunftssicht nach Jonas, die sich auf Einschränkungen und Rücksichten verlässt. Dies geht ebenso an der Natur des Menschen vorbei, wie alle anderen jüdischen Versuche an das Gute im Menschen zu glauben. Der Jude Jesus, den sie als Christ bekennen, ist dafür, nach einem ungerechten Prozess als politisches Opfer gekreuzigt worden. Der Aufstand seiner Jünger hat das Ende Jerusalems zur Folge gehabt und Jahrtausende der Diaspora. Letzten Endes war es ein Glaube, der die Inquisition, die Kreuzzüge und die Ketzerprozesse zur Folge hatte. Vielleicht war der Fehler das Heidenchristentum und es war Paulus, der das Unglück erzeugte.
Die Juden Karl Marx und Friedrich Engels haben eine Veränderung des Menschen durch die Veränderung der Stellung zu den Produktionsmitteln erzwingen wollen. Sie wollten deren gemeinschaftliche Nutzung verordnen und haben die stalinsche und die maoistische Hölle auf Erden begründet. Der Jude Sigmund Freud glaubte, dass man durch phantasiertes Wiedererleben seine Kindheits- und Sexualprobleme lösen könnte und schuf eine Wissenschaft, die zu einem Religionsersatz wurde.
Es scheint eine jüdische Krankheit zu sein an das Gute im Menschen zu glauben. Oder es ist unsere von IHM auferlegte Mission.
So geht’s mir: meinen Glauben an das Gute im Menschen kann ich nicht zum Schweigen bringen. Ich weiß, dass es für einen Arzt kein Fehler ist die Menschen zu lieben. Ich kenne den Satz Bruno Kreiskys: „Es ist kein Fehler für einen Politiker, wenn er Menschen mag.“ (Ich bin aber kein Politiker.) Trotzdem – die unbedingte Menschenliebe ist ein Gefühl, das ich nicht unterdrücken kann. Hat man es gibt es keine Enttäuschungen. Ich weiß, dass der Mensch das gefährlichste, gefräßigste und mörderischste Tier ist. Ich weiß, dass bei Not hier am Schiff die Menschen einander auffressen würden. Das alles weiß ich und also auch, dass mich Keiner mag, mögen im ursprünglichen Sinn. Ich will aber meine Tür ins Paradies nicht schließen indem ich sie mit Hass verbarrikadiere, oder mich verhärte. Mein kindliches Ich ist mir zu wertvoll, meine weichen Füße und meine empfindsame Seele.