Denken Sie immer an Walters Ausspruch: „Wir haben eine Seereise gebucht!“ In der Tat gibt’s Menschen an Bord, die die vielen Seetage nicht mögen. So als ob sie Landausflüge bevorzugten. Das kann ich von mir nicht behaupten. Die Seetage vergehen wie im Flug, es sind herrliche Urlaubstage mit dem Rauschen des Meers und der davon ausgehenden Ruhe. Heute, am 22.02. um 12 Uhr haben wir mit Alfred und Jaqueline einen denkwürdigen Tag verbracht: wir haben Shabbat und Sonntag, die auf Grund des Überschreitens der Datumsgrenze zusammengefallen sind, bei einem Mittagessen gefeiert.
Der morgige Tag, der morgige Tag – den 23.03. wird’s für uns nicht geben. Wir überqueren die Datumsgrenze und verlieren einen Tag. Das fiel schon dem Schreiber Maghellans auf. Als er als Einziger der Crew des Weltumseglers nach Spanien zurückkam und seine Aufzeichnungen durchsah, stellte er fest, dass ihm ein Tag fehlte. Dass er sich selbst nicht der Ungenauigkeit zieh, oder an den anderen zweifelte, weist ihn als echten Wissenschafter aus. Er beobachtete ein Phänomen und wischte die Beobachtung nicht weg, sondern erklärte sie sinnstiftend: umrundet man die Welt, „verliert“ man einen Tag.
Die vergangenen Tage vergingen, so wie die zukünftigen hoffentlich auch vergehen werden. Heute am Shabbes habe ich keinen Sport gemacht, in der Kabine mit M. gefrühstückt, Kanasta gespielt, zu Mittag im noblen Club deliciosa gegessen und zur Feier des Tages einen Petit Arvin Wein aus dem Aostatal getrunken, dann geruht und in den Whirlpool.
Ja, die Träume: in so vielen Träumen am Schiff rette ich die Welt, so wie ich es als Schulkind in meinem Joka Bett in dem hintersten Zimmer der Hintzerstraße in Wien drei gemacht habe. Heute rettete ich die Welt vor der atomaren Zerstörung, manchmal rette ich auch nur Einzelpersonen – aber immer kommt’s auf mich an. Ich muss tätig werden, in vielen Zusammenhängen und Situationen. Mein ganzes Rentnergebäude, an das ich kaum geglaubt habe wankt. So wie ich in meinen Büchern übers Alter geschrieben habe, so scheint‘s zu sein: die Alten müssen sich nützlich machen, das Ende der jedweder Tätigkeit und auch der damit verbundene Bedeutungsverlust machen sonst mürrisch, dumm und vergesslich. Die am Schiff angebotenen Belustigungen können davon ein Lied singen: am Vor- und am Nachmittag werden von der Animationsgruppe Spiele, wie im Kindergarten angeboten. Da werden Pappbecher aufeinandergeschichtet und bewertet wer den höchsten Turm erzeugen kann. Mannschaften werden gebildet und der/die Gewinner*in bekommt ein Kapperl. Am Abend um 22:30 macht dieselbe Truppe eine Vorführung in der Grand Bar. Vorgestern habe ich daran teilgenommen und bin noch immer gekränkt. M. hat mir geraten mitzumachen. Ich sollte den Maori Tanz, Haka, machen. Es war ein abgekartetes Spiel, Benedetto war vorab als Sieger definiert und ich war als Verlierer hinzugebeten worden. Ich spürte das vom ersten Moment an. Alles gut, sagten die Animateure, ich sollte Spaß haben. Aber, dass der Chef des Animationsteams mich vor der Vorführung an der Brustwarze berührte, hat mich entwürdigt, gekränkt und verletzt. Ich soll damit zu Recht kommen, sagt M. Ich bemühe mich, ich hasse ihn. Ein aufgeblasener Italiener, der sich für einen Halbgott und für viel zu schade für uns Greise hält. Überdies kann er nur Italienisch, in allen anderen Sprachen kann er Guten Tag sagen.
Ich lese Matt Heig: Wie man die Zeit anhält – der Titel schien mir passend. Unsere Zeit hier ist in gewisser Zeit angehalten, sie vergeht, sie wechselt oft und ist nicht so wie sonst. Durch die Coronaviruskrise und die Unklarheit wohin wir fahren, wird die Zeit noch schwankender, wenn man uns auch verspricht, dass wir am 26.04. morgens in Venedig ankommen, so lesen wir doch, dass der Hafen von Venedig gesperrt ist.
Heigs Roman beschreibt Menschen, die nicht altern, oder sehr langsam. Sie werden so alt wie Methusalem und von der Umgebung gehasst. Jedes zweite Kapitel springt um hunderte Jahre, die Erinnerung wird beim Helden des Romans Tom, der immer anders heißt, mehr und mehr bis er unter ihrer Last zu zerbrechen droht. Das Komische und Wunderbare ist, dass der Roman selbst durch diese Erzählung keine richtige Zeit hat, auch wenn sie das zentrale Element der Erzählung ist. Köhlmeiers Jakob Spazierer fällt mir dazu ein, oder auch die zweite Walpurgisnacht aus Goethes Faust – in beiden und vielen anderen Romanen, verliert man den Bezug zur Zeit. Es sind jedoch nicht die Verknüpfungen, die mich beschäftigen, sondern, dass in dem Roman die Fragen des Lebenswillens und des Wozu zentral sind. Bei Tom ist es die Suche nach Marion, seiner verschwundenen Tochter, die die Eigenschaft der Anagyrie geerbt hat, die ihn leben lässt. Bei anderen „Albatrossen“, wie sie im Roman genannt werden (da der Albatros angeblich ewig lebt) ist es die Lust am Leben, die Angst vorm Sterben, oder die Freude am Surfen, die Lebenssinn stiften. Ein Roman, der einem eine Frage mitgibt, ist was Feines. Da frage ich Sie: „Was ist Ihr Lebenssinn?“
Denn zu so guten Fragen komme ich hier: nicht nur die notwendige Beitragsleistung, sondern auch was die Zeit sei. Der Kapitän gab dazu die beste Antwort: Wir kommen ungefähr um 10 Uhr Null, Null an. Zu einer so genauen Angabe „ungefähr“ hinzuzufügen, das ist es, was Zeit noch mehr schwingen lässt. Das kann nur ein Italiener: „ungefähr“ mit Sekundenangaben verknüpfen. Selbst die vier Übersetzer*innen sagen jeden Tag zu Mittag, wenn sie die Durchsage Kapitän Nicolo Albas von der Kommandobrücke übersetzen: Es ist ungefähr 12:04. Der Kapitän aber sagt: „Bon giorno, io parlo de la ponte de commando, a la dodeci ora zero, zero”. Das ist Genauigkeit, wenn man’s denn glaubt.