Sie glauben Sie wissen schon alles. Sie kennen das ganze Schiff, den 2. und 3. Stock, den 9. und 10. Den Rest, die Kabinenstockwerke glauben Sie sich vorstellen zu können. Einerseits kann ich nur sagen: weit gefehlt. Das kommt heute, damit Sie sich besser auskennen. Was – wie ich hoffe – meine kleinen Erzählungen spannend macht, sind doch die Menschen, die wir treffen. Davon soll nun mehr die Rede sein, schon, weil mein Vater Viki Baums Roman: Menschen im Hotel so liebte. Josef Roths Roman: Hotel Savoy wird mir auch kein anzustrebendes Ideal sein. Ich bleibe da lieber bei meinem Vater, der sich lediglich als Einäugiger unter Blinden bezeichnete.
Schon in der Früh beginnt’s. Fitnessraum, sie wissen schon, dann auf Deck zum Sonnenaufgang. In den Tropen ist der Sonnenaufgang am Meer anders. Am Horizont stehen Wolken, deren Aufgabe es zu sein scheint die Sonne zu verdecken. Natürlich weiß ich, dass das ein sehr anthropozentrischer Zugang zu einem Naturphänomen ist. Den Wolken, der Sonne sind wir egal. Sie schienen schon und bedeckten den Himmel, als es die Menschen noch nicht gab und sie werden noch dort sein, wenn wir längst verschwunden sind. Apropos: wieso jeder Mensch sich für wichtig hält, kann ich verstehen. Denn wer sollte ihn/sie denn für wichtig halten? Aber wieso die Menschheit – auch und gerade angesichts der einsetzenden Warmfront sich für so wichtig hält, dass sie eine Klimakatastrophe ausruft und annimmt, dass sie den Planeten zerstört, das habe ich nie verstanden. Gedanken zur Sonne, die sich aus dem Atlantik erhebt. Viel wichtiger ist mir, dass mein Schatzi diesen Moment mit mir teilt. Sie kommt extra deswegen aus dem Fitnessstudio auf Deck 11 und wir lehnen an der Reling und schauen so lange in die Sonne, wie’s geht. Beim Frühstück auf Deck 9 in der frühen Sonne setzt sich jenes Paar neben mich, die ich von früheren Kreuzfahrten kenne und die mir unsympathisch bleiben werden. Es wird erwidert. Wie waren gemeinsam in Igiazu und er hat mir andauernd von seinen Erfolgen erzählt. Ein Rosstäuscher. Jetzt erzählt er stotternd (denn er stottert, was seine Sucht aufzuschneiden witzig macht), dass er bei der Kirschblüte in Japan war und dass es ein Foto mit ihm und seiner Frau, den blühenden Kirschbäumen und dem Fujijama gibt. Da fragt man sich wirklich wieso die zwei Donaustädter, die überdies Ausländer nicht mögen, obwohl er selbst mit Akzent stottert, auch auf dem Foto sein mussten. Er macht Konversation, wir sind ablehnend böse, die Frau merkt‘s und ist betroffen, merkt unseren Dünkel, er macht sich anscheinend nichts draus und gibt den überlegen Stotternden.
Dann bleibt nur wenig Zeit den gestrigen Text zu verbessern, schon wartet um 09:15 die Rückengymnastik auf Deck 9 – vor dem internen Schwimmbad – auf mich. Sicher 200 Mitreisende nehmen daran teil. Letztes Mal war es Marie-Luisa aus Brasilien, die mit Schwung Zumba machte. Zuletzt waren wir nur mehr 20 – 30 Personen, die mit ihr mithalten konnten. Heute wird auf und mit Sesseln geübt und Menschen bis 85 nehmen daran teil. Und zwar mit Gewinn. Es ist weder so sexy noch so lustig wie damals, aber passender für die Population. Eine ¾ Stunde ist in der Wärme trotzdem genug. Eine ältere Dame kommt zu spät und leidet bald unter der Hitze. Auffällige Hilfeleistung ist möglich, ich bringe ihr den Sessel in den Schatten.
Um ½ 11 beginnt der Vortrag von Prof. Scopelliti über den Einfluss der afrikanischen Kultur auf Lateinamerika im Duse Theater. Vorher umziehen, beim Schreiben essen, wer glaubt, dass es auf dem Schiff langweilig ist, der kennt kein Schiff. Den Tangokurs lassen wir ohnehin aus, weil wir dann unsere Freunde aus Wien treffen, unterbrochen nur Michelle Toledano, Salomons Frau. Sie kommt und wie eine Israelin spricht sie einfach mit Marguerite laut und unüberhörbar auf Französisch. Man ist amüsiert verzweifelt und spricht anschließend über die verschiedenen Arten von Benehmen. Transkulturell. Michelle ist überzeugt, dass Haifa aus reiner Israelfeindlichkeit nicht angefahren wird. Alfred erinnert die Zollformalitäten anlässlich einer Kreuzfahrt mit Stopp in Haifa und will dort nie mehr hin. So sei er noch nie behandelt worden, ausgezogen bis auf die Unterwäsche, gefilzt und der Pass wurde ihm von einem Schnösel hingeworfen. Das hat er in der allerschlechtesten Erinnerung. Wir sitzen dazwischen und spüren die vielfachen Identitäten in uns.
Marguerite würde gern mit Jaqueline und Alfred in den 10. Stock Essen gehen. Wir probieren’s. Als wir dort stehen, nehmen wir Abstand. Marguerite will mit ihrem Sohn Noah telefonieren, ich will eigentlich ein paar Nudeln von der kleinen Köchin, die das täglich macht und nicht ein bis zwei Stunden dauerndes Essen zelebrieren. Also verabschieden wir uns höflich, gehen in die Massenausspeisung des 9. Stocks. Ich esse wirklich Bucattini ala amatriciana mit Peperocini, dann eine Entekeule à la orange mit Bratkartoffeln. Marguerite hat ein Stück Spinatquiche und Gemüse. Wir setzen uns zum „Fähnliwalter“. Walter ist ein starker Mann von 83 Jahren mit einem respektablen Bauch. Den Bauch kennen wir von seinen Ein- und Ausstiegen neben uns im Whirlpool über einer vielfärbigen, langen Badehose bevor er sein mit einer schweizer Fahne gekennzeichnetes Quartier aufschlägt. Er hat einen kahlen Kopf, das Gesicht freundlich, die Nase knollig, die Lippen schmal und schlau funkelnde blaue Augen. Er hat Wimpel aller Staaten, die wir bereisen werden neben seinem Sitz im Speisesaal, sowie einen elektronischen Fotodisplay seines Hauses und der Erinnerungsplakette an seine verstorbene Elfriede am Tisch. Er macht seit 2014 jede Weltreise der Costa mit, anfangs noch mit Elfriede. Er verwaltet nun sein Haus in Erinnerung an sie. Neben ihm sitzt Klausi aus Bern. Beide gestandene Männer. Klausi isst mit der allergrößten Ruhe die Spezialität des Tages: Garnelen, die ungeputzt gebraten werden. Mit Messer und Gabel pullt er sie aus ihren Schalen. „Man darf nicht hungrig sein, wenn man das isst.“ Klausi, wie Walter ihn nennt ist ein Mann von 80 – 85 Jahren, ein großer, älplerisch-schweizer Kopf thron auf einem großen Körper. Am Hals rechts, dort wo ich hinsehe, steht ein Knoten hinter dem Halswendemuskel hervor, sicher ein Lymphknoten. Weiße Flecken wechseln mit gebräunter, gegerbter Haut ab, die Lippen sind schmal und rissig. Sein Mund hat eine volle Unterkieferreihe Zähne. Als er geht, um sich noch einmal 20 Garnelen zu holen, sehe ich, dass sein Stock unnötig ist vielleicht mehr Koketterie mit dem Alter.
Beide Männer sind Witwer und geben sich auf lustig. Sie machen Witze über Eiweissschocks durch Garnelen, er zeigt die wohlgefüllten Därme der Tiere, die er vorsichtig entfernt. Walter kommt aus Braunau im Kanton Turgau und macht erst einen Witz so als ob er aus Hitlers Geburtsstadt käme. Seine drei Söhne wohnen mit den Schwiegertöchtern rund um ihn herum und bekochen ihn. „Manchmal,“ so sagt er „gehe ich auch ins Wirtshaus, da bekomme ich dann was ich will.“
Siesta.
Im Schwimmbad im Freien auf Deck 9 treffen wir Salomon Toledano. Ich bin dem Spiel wer der Bessere und Reichere ist, nicht gewachsen. Er hat eine Wohnung in Paris in der Rue de Republik, Ecke Avenue Hausmann und eine in Tel-Aviv in der Nathan Chacham. Er berichtet von seinem Vater, der der Notenbankgouverneur der tunesischen Staatsbank, dann Teehändler und zum Schluss Wechselstubenchef einer jugoslawischen Schifffahrsgesellschaft war. Immer perfekt gekleidet, die Mutter wie eine Prinzessin auf Händen tragend, 14 Kinder, 5 verstarben früh. Wirtschaftlicher Erfolg, Salomon hat einen klingenden Namen. Das Beste, neben dem Spiel des Reichtums, das anscheinend alle mit mir spielen und das ich immer verliere, ist sein Satz über den Vater: „Wenn ich über meinen Vater rede, dann spüre ich im Mund Honig!“ Das kann nur ein Sfarde sagen, der bis heute zu Hause Sfardi spricht. Eine dunkel gebräunte Glatze, eine scharfgeschnittene Nase und Goldkronen erinnere ich, weil er gern und viel lacht, während ich verliere. Eine große Goldkette trägt er am Hals, die bis zum Bauch reicht und mit einem Schifferknoten geschlossen wird. Daran hängt ein ziseliertes Chai. Unser Gespräch wird jäh unterbrochen, weil Michelle Salomon ohne Kappe im Wasser sieht. Sie ruft ihn und der reiche und selbstbewusste Mann springt wie ein Delphin aus dem Wasser. Viel später spricht er mich nochmal an – diesmal natürlich mit Kapp am Kopf – aber von seinem selbsterzeugten Glanz ist manches durch die Intervention seiner Frau trüb geworden.