So ein Seetag der ist lustig, der ist fein. Da kann man nichts erleben. Das ist das Schöne daran. Ich bin in Kontakt mit meinen Träumen, schreibe sie auf; lese am sonnigen Balkon und vermeide alle Menschen, die so am Schiff rumrennen und leben. Marguerite und ich sehen eigentlich nur einander und den Kabinensteward, den verträumten Anthony. Wer Langeweile liebt ist hier richtig.
Im Traum war ich ein Held. Nachtdienst auf einer Kinder- und Jugendlichenintensivstation. Ein junger Mann kommt nach einem Ertrinkungsunfall. Anfangs versuche ich ihn auf einem Sessel zu reanimieren, er spricht, obwohl er dann literweise Wasser aus seinem Mund rinnen lässt. Dann kommt er doch auf eine Trage, bekommt Sauerstoff, kann reden und ich will ihn an die Lungenabteilung verlegen. Deren Chef, der heutzutage der Vorstand der Kinderklinik Graz ist, Professor Eber ist nicht zu erreichen. Nette Interaktionen mit den Krankenschwestern, die mein langes Fernbleiben bedauern, wunderbare Bally Netzschuhe mit Ledersohle habe ich an schwarz, was zwar meinen Wunsch Tanzschuhe an Bord zu haben entspricht, nicht aber einer Dienstkleidung. Wie dem auch sei, ich wache froh auf, habe meine Arbeit schon im Traum getan, meine Wichtigkeit und das „ich-werde-gebraucht“ im Traum erlebt und kann nun nichts arbeiten. Schiffsarzt bin ich nicht, oder noch nicht.
Marguerite geht irrtümlich zu einer Massage, die erst nächsten Tags sein wird und kommt zurück. So können wir ein kleines Frühstück miteinander einnehmen, zwei Kiwis, etwas Müsli, sie hat zwei Croissants. Dazu herrlichen Formosa Oolong Champagne Tee – der einzige Kontakt zum Schiff war bisher, dass ich Wasser aus einem Spender im 9. Stock holte. Danach lesen: Marguerite liest ein Buch von Y. Yalom – seine Autobiographie. Wie aus dem kleinen, ängstlichen Kind aus armen Verhältnissen der Weltstar der psychotherapeutischen Innenschau und Bestsellerautor wurde. Sie erzählt mir gern davon, liest mir kleine Passagen vor. Ich lese Alex Beer: Der dunkle Bote, ihr dritter Krimi, der in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg spielt. Das dunkle Wien, voller Verbrecher und vom Krieg zerstörter Menschen, Anspielungen auf Dantes göttliche Komödie, der Kriminalinspektor ein kranker, elender, alleinstehender Mann, der die Frau eines anscheinend Gefallenen liebt, die ihm genommen wird. Schlechtigkeiten im Büro, der Held ein Herr Emmerich mit harter Schale und gutem Kern wird wohl seine Zimmervermieterin heiraten. Die Kinder seiner großen Liebe hat er jedenfalls am Ende des Buchs schon bei ihr im Wohnzimmer einquartiert, Frau Beer legt schon den nächsten Krimi an. Ich habe gelernt: ein guter Krimi braucht jeden Tag einen Toten und viel mehr Spannung, als meiner hatte. Meiner ist zu gemütlich und hat zu wenig Blut. Wenn ich so weiterschreiben wollte, dann müsste ich das Genre wechseln, zum Beispiel auf Reiseblog.
Denn das ist es ja warum ich diesen Blog mache: als ich mich auf die 1. Weltreise vorbereitete suchte ich nach Literatur. Außer dem herzigen Bericht einer deutschen Krankenschwester mit wenig Geld und großem Interesse für Souvenirs, fand ich nichts. Nur dumme Krimis und fade Geschichten. Aber niemand hatte über eine Kreuzfahrt Tag für Tag berichtet, jeder hatte es vielleicht zu fad gefunden, oder zu uninteressant. Diese Lücke füllt mein Blog: sie reisen mit mir. Jeden Tag, egal ob spannend, oder fad.
So auch heute: denn die Tatsache, dass Marguerite mich so lange lenkte bis klar war, dass wir in den 10. Stock, ins Nobelrestaurant zum Mittagessen gehen würden, ist nicht aufregend. Außer man war noch nie dort. Da gibt’s die besten Vorspeisen kleine Tintenfische und Garnelen in heller Sauce, dazu Rindscarpaccio und Brot. Danach eine klare Fischsuppe mit Garnelen, Tintenfischen und einem kleinen Stück Branzino. Noch Linguini mit Meeresfrüchten, wieder dieselben Tiere, diesmal mit einer Olivenölsauce in einem Backpapier eingeschlagen. Ich wollte nur probieren und lass die Nudeln stehen. Als Hauptgang Seehecht mit Kartoffelpüree und Zucchini. Danach eine Schokotorte. All das auf sehr bequemen Lehnsesseln, die mit schwarzem, gebrochenem Stoff tapeziert sind. Herr Kim und seine Speisenträgerin waren unsere Kellner, draußen starker Wind und Sonne. Laut Kapitän 14 Grad die Luft und das Meer 17 Grad, wie wir bei der Mittagsdurchsage erfahren.
Nach einer Siesta erwischen wir noch die letzten Sonnenstrahlen im Whirlpool. Eine Stunde im warmen Wasser, Sonne im Gesicht und staunende Menschen, die in Pullovern und Jacken am Deck herumgehen.
Doch so einfach wollte es nicht zu Ende gehen. Der Tenor war arm: jung, eine gut trainierte Stimme, ein großer Junge, aber ohne Orchester, ganz allein auf der Bühne und die klassischen Schlager. Er hat sich auch keinen Gefallen getan indem er sich mit Luciano Pavarotti verglich. Sicher, er hat auch das Lied des Fürsten aus Rigoletto gesungen (das ich für frauenfeindlich halte), sicher auch O sole mio, aber beide ohne Schmelz, ohne die Weite des größten Tenors, den ich je hören durfte und so ganz allein auf der Bühne. Manche gingen, weil es sol laut war, manche standen danach im Sinne von standing ovations auf, aber er wusste es besser. Verzweifelt sah ich ihn dann bei einer Pizza sitzen und sie zurückschicken, weil die falsche gebracht worden war.
Apropos Pizza: Das Abendessen gestaltete sich katastrophal wie immer. Mit Marguerite saß ich vor dem Einlass in den Speisesaal rund um 20 Uhr. Hörte Giselle einer guten brasilianischen Sängerin und ihrem Mann zu, während der Tross der Alten auf Einlass wartete. Sie wird für die Überbrückung der Wartezeit verheizt, grüßt Jeden und Jede und gibt allen das Gefühl mit ihnen befreundet zu sein. Eben Brasilianerin. Dort sitzen wir also. Schauen den Alten, Versehrten und Behinderten zu, wie sie sich zum Trog schleppen. Marguerite wird immer unrunder: „Ich kann da nicht hinein. Es erinnert mich an den Eingang in die Gaskammer – schon, wie die Türen geöffnet werden. Wenn diese geschlossen sind, sind sie Stahltüren, da will ich nicht eingeschlossen werden.“ Sie nimmt ein Tonic water, ich ein kleines Bier. Wir beschließen nicht Abendessen zu gehen. Was dann? Nochmal Tenor – nein. Tanzen gehen? Ich hätte ein Sakko und ein Hemd, so wie eine weiße Hose an, aber ich möchte zwar gerne tanzen (im Gegensatz zu den meisten meiner Freunde), aber ich kann’s nicht und Marguerite leidet mehr als ich unter den Blicken der anderen und unter meiner Unfähigkeit. Also in den 9. Stock zur Pizza. Man setzt sich: rund um uns gehobenes Personal, Offiziere und Offizierinnen, an einem Tisch nebenan einer der Chefköche mit Frau und einem Offizier ebenfalls mit Frau, alle in Uniform, sonst dürfen sie sich nicht unter die Passagiere mischen und dahinter der Tenor mit zwei Betreuern. Dann kommen toll geschminkt zwei Tänzerinnen mit Partnern und nehmen nullprozentige Getränke.
Es wird eine Pizza Tirol mit Speck, Camenbert und Honig bestellt. Es dauert. Ich nehme ein Glas des bei den Tischzeiten inkludierten Roseweins – kostet mehr wie die Pizza nämlich 5,50€. Gut, ich wollte ohnehin keinen Wein. Nach 20 Minuten kommt eine dick mit geschmolzenem Mozzarella belegte Pizza mit Camembert und Speck. Ich koste. Das kann und darf ich nicht essen. Ich würde schwere Bauchkrämpfe von dem geschmolzenen Käse bekommen. Außerdem bin ich irgendwie stolz, dass mir eine Hose, die ich vor zwei Jahren für die Fete blanché des Schiffs in Cartagena gekauft habe, mir genauso wie damals passt. Sicher, die Verkäuferin war irgendwie empört, dass sie sie aus dem Lager holen musste. So große Größen haben sie nicht im Verkaufsraum. Aber ich habe nicht zugenommen, eher etwas Gewicht verloren. Der Trick ist: ich esse nicht, wenn‘s nicht schmeckt. Das habe ich von meinen Kindern gelernt. Also esse ich die Pizza nicht.
Lustig, wie verschieden die Reaktionen sind. Marguerite isst ihre Hälfte und den Belag von meiner. Sie bekommt Magen-Darmkrämpfe und besucht häufig die Toilette; ich esse nicht, dann in der Kabine den Rest eines Lebkuchens, den wir mitbekommen haben und danach träume ich schlecht: Ich bin eingesperrt und möchte Marguerite, die zugleich Frau und Mutter ist, dazu bewegen rauszugehen. Sie will nicht. So wie sie nicht essen gehen wollte. Sie will, dass wir in den dunklen Räumen bleiben. Das will ich nicht. Ich fürchte mich. Tagesreste kenne ich: es sind der Roman: Der dunkle Bote von Alex Beer, es ist die Situation mit dem Essen, Marguerites Wunsch die meiste Zeit ohne die anderen Mitreisenden in der Kabine zu verbringen und das frühe Schlafengehen. Das andere ist meine Geschichte: die Erwähnung der Gaskammer reicht schon, um Urängste in mir auszulösen. Ein ganzes Leben habe ich versucht mich mit den Tätern zu identifizieren, jetzt, da ich älter werde, bröckelt diese Abwehr und ich werde schlichtes Opfer, eine Rolle, die mir mein ganzes Leben zugedacht war. Da hilft kein Überblättern der entsprechenden Seiten in den jüdischen Zeitungen, da hilft kein Ausweichen von Romanstellen in denen Juden verfolgt, gequält und geschunden werden, die Identifikation ist nicht zu verhindern. Selbst Alex Beer hat unvermittelt den Antisemitismus der Hungerzeit nach dem 1. Weltkrieg in ihrem Roman. Wozu, ist unnachvollziehbar. Scheint’s jeder Roman wird mit ein bisschen Judenverfolgung besser – vor allem, wenn man keiner ist.
Als mir im Traum ein großer und bedrohlicher Mann auf Marguerites Befehl ein beruhigendes Zäpfchen einschieben will, gelingt es mir mich daraus zu befreien, ich kann sogar in der „echten“ Welt etwas machen – ich schlage Marguerite die sowohl real als auch im Traum neben mir liegt, auf den Kopf. Sie steht auf und geht auf die Toilette. Ich erwache, irgendwie stolz. Gleichzeitig muss ich mich bei ihr entschuldigen – ich habe sie im Schlaf geschlagen. Auch darum geht’s in Beers Roman: Misshandelnde Männer, die vom dunklen Boten getötet werden. Liest man den Roman ist man auf Seiten des Boten, der diese Männer auf besonders grausliche Weise tötet, nach den Anweisungen aus der göttlichen Komödie. Schläft man danach und ist Mann, identifiziert man sich mit beiden. Man ist Opfer und Täter.