Die Mittagsbesprechung in der Univ.-Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde habe ich schon an mancher Stelle besprochen. Sie war intellektueller Kampf, Kampf ums Besserwissen, Kampf ums Gewinnen. Männer kämpften meist, die Frauen litten angeblich darunter, bezeichneten die Besprechung als „Hahnenkämpfe“ – und kämpften auch. Interjektionen, kurze Schläge waren lustig, manchmal half es auch dem einen, oder der anderen Patient*in, dass man kollektiv über sie nachdachte. Heute nennt man das Schwarmintelligenz.
Das Ritual begann so: Nach und nach, zwischen 11:50 und 12 Uhr füllte sich der Besprechungsraum neben der Chefkanzlei mit bis zu 85 Ärzt*innen. Inmitten des Raums stand ein längsovaler Tisch an dem etwa 25 Stühle aufgestellt waren, rundherum fanden sich nochmals etwa 55 Sessel. Manche Ärzt*innen kamen aus dem Speisesaal, in dem sie ein frühes Mittagessen eingenommen hatten, manche kamen eiligen Schritts von den Stationen. Andere aus den Spezialambulanzen. An sich hatte keine*r einen fixen Platz. Nichtsdestotrotz saßen die eingesessenen Professoren am Kopfende links und rechts vom Chefsessel. Nur eine Diplomkrankenschwester war anwesend – das war die Oberschwester, oder ihre Vertretung. Als Prof. Müller Chef wurde, ließ er bei seinem Sitz eine Lade einbauen, ich nannte sie den Gessler Hut in Anlehnung an Schillers Drame: „Wilhelm Tell“ in dem der österreichische Verwalter der Schweiz einen Hut aufstellen ließ, den jeder Bürger zu als Demutsgeste zu grüßen hatte. So stellte er sicher, dass sich niemand, außer ein Vertreter auf seinen Sitz setzen konnte. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich einmal dort saß. Da müsste praktisch die ganze Klinik auf Urlaub gewesen sein.
Wenn der Chef den Raum betrat versandeten die Gespräche, die meist lebhaft waren. Die jüngsten Ausbildungsärzt*innen hatten dann die sogenannten Zugänge anzusagen. Zugänge waren Kinder und Jugendlichen, die am Vortag ab 12 Uhr, oder in der Nacht aufgenommen worden waren. Meist waren es Aufzählungen (zum Beispiel: fünf Gastroenteritiden im Alter von …), manchmal auch ein kurzes Schlaglicht zum einzelnen Kind, je nachdem, ob etwas zu sagen war, beziehungsweise der/die Turnusärzt*in redefreudig, oder ängstlich war.
Ich erinnere, dass es Hochsommer war. Kinder und Jugendliche badeten in den städtischen Bädern Graz‘. Dort wurde geraucht, geschmust und Alkohol getrunken. Es war die Zeit in der die Breezer aufkamen, süße Getränke mit Schnaps, meist Wodka, die wie Limonade schmeckten und schnell betrunken machten. Burschen luden Mädchen auf solch ein Getränk ein, um ihre Chancen auf einen Kuss, oder sogar mehr zu erhöhen.
Am Abend des Vortags war ein Mädchen mit der Rettung aus dem Eggenberger Bad eingeliefert worden. Sie hatte die Fähigkeit die Buchstaben „L, R und M“ zu sagen, verloren und fühlte sich schwindlig. Als der Fall berichtet wurde, lachten viele Männer. Sie erinnerten sich an ihre Zeiten im Bad, an ihre Sommer der Jugend und vielleicht auch an die Mädchen, die sie geküsst hatten. Sie riefen durcheinander: „Sonnenstich!“, „zu viel g’soffen!“, „Was war in der Kabine?“. Sie vermuteten, dass Alkohol, Sonne und das jugendliche Leben in den Kabinen des Eggenberger Bades Ursache der Veränderung gewesen sei. Ich rief: „Klingt nach einem Aneurysma der Arteria cerebri media, je nach Händigkeit rechts oder links!“ Plötzlich war es still, man erwartete meine Hinrichtung. Willi Müller war gegenüber Störungen sehr aufmerksam. Er überging keine Interjektion, er hatte vor allem als Neonatologe gelernt, dass kleine Ereignisse große Folgen haben können. Die anderen Kollegen machten sich über mich lustig. Zu stark waren ihre Erinnerungen an das Bad, an Löchern in Kabinenabtrennungen, an Mädchen mit denen man zusammen war.
Müller wandte sich in dem lachend-lustigen Tumult an mich und fragte: „Wieso glaubst Du das?“ Ich: „Es könnte eine Schwellung einer angiomatösen Anomalie sein, die durch übermäßigen Sonnengenuss zu Stande gekommen ist. Es wäre ein großes Glück, weil man das Aneurysma entfernen könnte, bevor es platzt und das Mädchen ein neurochirurgischer Notfall wird, oder einfach an der Blutung im Gehirn stirbt.“ Noch immer Lachen: „Sollen wir wegen der drei Buchstaben jetzt ein MRT des Gehirns machen? Wir wollten das Kind heute entlassen!“ Das sagte der Stationsführende, der immer den Turnusärzt*innen zur Seite zu springen hatte, wenn etwas diskutiert wurde. Ungeschriebenes Gesetz war das. Die Trotz Kinderneurologinnen, die mich nicht mochten, sprachen sich gegen meine Annahme aus. Trotzdem wurde ein MRT gemacht – man wollte doch nichts übersehen. Das ist eine der schlimmsten Ängste eines Stationsführenden. Etwas zu übersehen und zu schaden. Also MRT – direkt von der Untersuchung wurde das Kind an die Neurochirurgie transferiert und operiert. Ein Clip legte die Blutzufuhr zu dem Aneurysma der Arteria cerebri media lahm. Die junge Frau, die nichts getrunken hatte und auch keinen Sex in einer der Umkleidekabinen hatte, wurde gerettet. Durch die Sonne und die Anstrengung war ihr Aneurysma größer geworden und hatte auf das Sprechzentrum gedrückt. Das hatte zu dem Hinweis geführt, der ihr das Leben gerettet hatte.
Ich habe das Lachen der Kolleg*innen oft gehört, vielfach hatten sie Recht und ich war zu ängstlich, oder vielleicht auch zu geltungssüchtig. Bei dieser jungen Frau jedoch war mein Einfall berechtigt und ich bin bis heute stolz darauf.