1988 wurde ich Dozent. In demselben Jahr wollte ich zusätzlich Gutachter werden. Das war damals als Habilitierter leicht. Es gab nur wenige Regeln. Allerdings wurde ein Kursus der Ärztekammer dringend empfohlen, danach musste man eine Prüfung beim Präsidenten des OLG Graz machen, die sich auf den Inhalt des Ärztekammerbuches mit den wesentlichen Verordnungen bezog. Danach wurde man: „Allgemein beeideter Gutachter“ und konnte den Titel auf die Visitenkarte schreiben, was ich umgehend machte.
Alles war damals irgendwie witzig, oder ich empfand es zumindest so. Ich hatte seit 1978 Einzel- und Familienpsychotherapie in privater Praxis gemacht, ich war’s müde geworden den Menschen zuzuhören, Recht zu geben und als Analytiker „Hmm“ zu brummen. Ich war’s müde für wenig Geld der Zustimmende zu sein. Überdies hatte ich nicht Medizin studiert, war Rettung gefahren und hatte zwei postpromotionelle Weiterbildungen gemacht, nur um zuzuhören und mich wie ein Psychiater aus einem amerikanischen Film zu verhalten. Im Gutachterwesen sah ich als Enkel eines Anwalts, sowohl etwas neues als auch eine andere Zusatzverdienstmöglichkeit. Meine Kleinfamilie war am Zerbrechen, mein erster Sohn unterwegs – es sollte nicht das letzte Kind bleiben.
Außerdem war ich neugierig und vom Ethos der Gerechtigkeit erfüllt. Ich war ein wenig naiv, würde ich aus der Perspektive von 2020 aus sagen. Ich wusste, dass ein Gericht auf Grund der Aktenlage entscheidet und nicht auf Grund einer von einer der Parteien empfundenen „Wahrheit“. Mein erster „Fall“ war ein dreijähriges Kind, das bei einem Feuerwehrfest in Stainach-Irdnig mit einem Hund in der Sandkiste gespielt hatte. Plötzlich war der Hund irritiert und biss das Kind ins Gesicht. Ich bestellte das Kind mit seinen Eltern nach Graz, fotographierte das Gesicht, ließ mir die Geschichte erzählen und verfasste mein erstes Gutachten. Ich beantwortete die Fragen des Gerichts welche Schmerzen sich aus der Verletzung und Behandlung ergeben hätten, welche Folgeschäden zu erwarten seien und ob noch eine weitere Operation aus kosmetischen Gründen nach Ende des Wachstums zu erwarten wären. Dann fuhr ich zur Verhandlung, zur Gutachtenseröterung. Die Verhandlung begann. Ich wusste nicht wo ich mich hinzusetzen hatte. Der Richter merkte das und bat mich, mich neben ihn zu setzen. Er saß allein hinter dem Richterpult, einem erhöhten Schreibtisch, vor sich zwei Kerzen und Jesus am Kreuz zur Vereidigung. Es war aufregend einen Verhandlungssaal einmal aus der Perspektive des Richters zu sehen und zu erleben. Wie klein sahen die Eltern, das Kind und der Hundebesitzer von dort aus! So wie der Satz, so fühlte ich mich auch. Wie ein Kind, das sich plötzlich, zum Beispiel bei einer Führung durch Prunkräume auf den Thron des Fürsten setzt. Die Verhandlung begann. Der Grund der mündlichen Verhandlung wurde erwähnt, alle Aktenstücke als verlesen angegeben, obwohl nichts verlesen worden war – ich sollte später lernen, dass das mit allen Aktenstücken geschieht, außer eine Partei wünscht die Verlesung in offener Verhandlung. Dann wurden die Anwälte gefragt, ob sie etwas vorzubringen hätten. Der Anwalt des Beklagten gab an, dass nach Auffassung des Hundebesitzers, dessen Hund eingefangen, dem Tierarzt vorgeführt und einer Tollwutuntersuchung unterzogen worden war, meint, dass die Verletzung unmöglich von seinem Hund passiert sein könnte. Überdies habe der Anwalt bei seinen Nachforschungen in der Gemeinde feststellen können, dass es mehr als 127 Hunde gäbe, die ähnlich oder gleich aussähen und dass auf dem besagten Fest viele Hunde frei herumgelaufen wären. Ob die Eltern besser auf ihr Kleinkind hätten achten müssen, dazu wolle er sich nicht äußern.
Der Richter sah in seinen Unterlagen und Akten nach: bisher war es unzweifelbar gewesen, dass es sich um diesen Hund und um seinen, hier anwesenden Hundebesitzer gehandelt habe, da die Polizei diesen Hund festgestellt und mit dem Besitzer zum Tierarzt gebracht hatte und dort die Untersuchungen gemacht worden waren. Hätte ein Verdacht auf Tollwut bestanden wäre der Hund getötet worden und das Kind wäre gegen Tollwut geimpft worden.
Nun war dieser Zweifel da, der sich auf nichts außer auf den Zweifel stützte. Der Richter verwies daher den Akt zur weiteren Erhebung an die Exekutive. Ich hatte kein Wort gesagt, mein Gutachten war nicht erörtert worden, die Verhandlung wurde nach dem Entscheid des Richters geschlossen.
Ich ging in ein kleines Geschäft eines Tapezierers nebenan und kaufte mir eine Chaiselongue und einen Fauteuil, beides kleiner als üblich, gut zu mir passend. Die Möbel waren mit rotem, festem Möbelstoff bezogen. Die beiden Stücke kosteten ein Vielfaches meiner Gutachtergebühr, die aus einer Fahrt Graz – Stainach und meiner Anwesenheit bei der Verhandlung zusammensetzte. Da ich nichts gefragt worden war, war meine Verhandlungsgebühr gering. Die Möbel machen mir 32 Jahre später viel Freude, sie wurden einmal frisch tapeziert und brauchen das bald wieder. Der Fauteuil ist niedrig, der Fußschemel noch kleiner, die Chaiselongue kurz – alles wie für mich gemacht, es würde auch in einen Hobbithaushalt passen.
Mein intuitives Rechtsempfinden wich hier zum ersten Mal von der Gerichtsentscheidung ab.
Später wurde das noch viel schlimmer, so dass ich heute nur lächeln kann, wenn meine Liebste ihr Rechtsempfinden benutzt, davon Abweichendes als falsch bezeichnet, ohne die Regeln zu kennen. Meine letztlich erfolgreichen Geschichte des Kampfs um höheres Pflegegeld für Kinder und Jugendliche widme ich ein eigenes Kapitel. Hier nur so viel als Hinweis:
Der steirische LH-Stv. Kurt Flecker aus Schladming, rotbärtiger Harley-Davison Fahrer, immer wie in einem amerikanischen Film gekleidet, Sozialdemokrat und echter Mundartsprecher beschloss das Pflegegeld aller Kinder in der Steiermark herabzusetzen. Das Pflegegeld der Kinder wird vom Land bezahlt. Pflegegeld wird nach den zusätzlich aufzuwendenden Stunden zur Pflege berechnet. Bei Kindern wird mit gesunden gleichaltrigen verglichen, weswegen noch mehr als bei alten Menschen Ermessen die Entscheidung beeinflusst. In der Steiermark betraf es zirka 400 Kinder, die teilweise an schlimmsten Geburtsfolgen litten, Krebs hatten, oder unfähig waren sich selbst zu versorgen. Der Streitpunkt waren die sogenannten zusätzlichen Pflegestunden für Beaufsichtigung und Förderung, die laut Bundesgesetz den Kindern im Ausmaß von bis zu 70 Stunden/Monat zustanden. Dadurch bekamen sie eine Pflegegeldstufe von drei bis fünf, statt dass sie wegen des Vergleichs mit Gleichaltrigen, kein Pflegegeld bekamen. Kurt Flecker kannte ich aus der Kommission zur Bestellung des Kinderbeauftragten des Landes – er war gewohnt sich durchzusetzen. Als ich ihn in der Burg in Graz besuchte und bat seinen „Kampf“ gegen die Kinder aufzugeben, grinste er und sagte: „Sie werden doch nicht gegen mich gewinnen wollen, Herr Professor!“ Das „Professor“ war mit großer Verachtung ausgesprochen. Ich gewann – es freut mich bis heute. Stay tuned.