Dieses mir so bekannte Zitat aus dem Hobellied von Ferdinand Raimund ist Glaube und Hoffnung jedes Österreichers. Wir Österreicher wissen, dass jeder seinen letzten Weg zu Fuß gehen muss, wir wissen, dass selbst der ärmste Mann dem Reichen viel zu reich ist, wir kennen Neid und Missgunst zur Genüge – doch das Schicksal hobelt alle gleich.
Der Sommer des Jahres 2020 war anders als alle anderen Sommer. Er begann damit, dass Marguerite und ich die 3. Weltreise Ende Feber in Sydney abbrachen. Das Schiff durfte voraussichtlich nicht in Madagaskar landen. Wir saßen in Melbourne in einem chinesischen Restaurant, um eine Ente zu essen. Das Restaurant war für mindestens 300 Personen ausgelegt, billige Tische mit Plastiktischdecken bedeckt, kleine, herzige Frauen als Bedienung – und es war außer uns nur noch ein Paar in dem Lokal. Die Menschen wussten anscheinend schon vom Ausbruch des neunen Virus in Wuhan und mieden das Lokal. Da hatten wir es leichter. Wir wussten, dass Viren nicht über Essen übertragen werden. Marguerite las mir aus dem Internet vor, dass Madagaskar seine Häfen für Kreuzfahrtschiffe geschlossen habe. In Réunion warfen Student*innen Steine auf Kreuzfahrttouristen und ein alter Engländer berichtete auf Facebbok stolz, dass er trotzdem bis zum Strand gekommen war. Auf Marguerites Frage was wir machen sollten, sagte ich: „Wenn ich für Madagaskar zu dreckig bin, dann will ich auch nicht hin!“ Außerdem sagte ich noch: „Als Jude muss man das Schiff verlassen. Wie viele Hinweise kann man noch brauchen, um wahrzunehmen, dass das keine Urlaubsreise mehr ist, sondern dass man nur am Schiff bleibt, weil man gezahlt hat? Da können wir unseren Großeltern nicht böse sein, dass sie trotz der Judengesetze und des Aufstiegs des Nationalsozialismus nicht rechtzeitig geflohen waren. Bei ihnen ging‘s um ihre Existenz und sie hatten es mit einem Europa und einer Welt zu tun, die keine Flüchtlinge wollte.“ Im Gegensatz dazu ging‘s bei uns nur um eine Urlaubsreise, die von Anfang an von Widrigkeiten geprägt war. Wir verließen das Schiff am nächsten Hafen Sydney, nicht ohne unterschreiben zu müssen, dass wir freiwillig abbrachen und so jede Ansprüche gegen Costa verloren (was einer Erpressung gleichkam). Abends gingen wir zu einer Hamletaufführung ins Untergeschoss des Sydney Opera House – eine Frau spielte Hamlet in einer kammerspielartigen Aufführung. Sie war wunderbar, sogar die Fechtszene am Ende des letzten Akts gelang schauspielerisch und sportlich. Es passte so gut: der dänische Prinz hatte keinen anderen Ausweg als den, den er wählte. Hamlets Gespräch mit seiner Mutter war rein und klar. Er wollte seiner Dynastie keine Chance geben, zu krank und verderbt erschien sie ihm. Jedenfalls nahm ich das Stück so auf.
Der Rat eines Mitreisenden half uns, wir konnten uns ein Businessticket nach Österreich leisten. Wir mussten das Ticket mit Meilen kaufen und nur mehr Gebühr bezahlen. In Österreich war das Wetter im März und April 2020 trocken und warm. Der Wienerwald neben meinem kleinen Häuschen wurde grün, vor der Zeit grün, die Birken neben dem Halterbach hatten hellgrüne Blättchen, die jeden Tag etwas größer wurden. Am Bachrand steckten die ersten Veilchen ihre Blüten aus dem Boden, die gelben Huflattichblüten waren so klein und herzig, dass es unglaublich schien, dass ihre Blätter in wenigen Wochen große Platschen sein würden. Fast täglich ging ich am Stadtwanderweg 8 mit einer kleinen Abweichung (ich gehe von der Karl Bekhertystraße aus und nicht vom Startpunkt Grüner Jäger, den es nicht mehr gibt) auf die Sophienalpe, 9,2 Kilometer und 290 Höhenmeter hinauf und hinab. Diese zwei Stunden klärten meine Gedanken, die erwachende Natur tat ein Übriges. Manchmal ging Helmut Kasper mit, manchmal auch seine liebe Frau Lydia Ninz, oft ging ich allein. Marguerite war mit dem letzten Flug zu ihren Eltern nach Zürich geflogen, wir telefonierten täglich, waren sehr verbunden. Letztlich war ich allein in Wien, Noah brachte mir manchmal Essen, öfter ging ich am Obkirchermarkt einkaufen, kochte für mich, aß sehr gut mit Musikbegleitung, trank guten Wein, nie mehr als ½ Liter pro Tag. Der familienzentrierteste Feiertag Pessach kam. Meine Söhne wohnten gemeinsam und feierten ebenso. Alle Kinder und ich machten eine Zoom-Konferenz und wünschten uns alles Gute. Das Lied: „Nächstes Jahr in Jerusalem“, das schon seit Jahrtausenden den Juden Hoffnung macht, machte uns Hoffnung in der Situation des lockdowns. Wir hofften, dass die Pandemie bald überstanden wäre, wussten es aber besser. Mit Peter Sichrovsky ging ich manchmal in Grinzig auf den Berg, an Wegerln, die ehemaligen Burgschauspieler*innen gewidmet sind auf Weinberge die von ihren Besitzern gepflegt wurden.
Jetzt ist es Spätsommer geworden, heute am 21.08. soll der letzte heiße Tag werden. Die Pandemie wütet weiter, die Konsequenzen die Gemeinschaften und Staaten daraus ziehen, ändern sich jeden Tag. Regelungen werden unverständlich, wenn sie das nicht immer schon waren. Menschen halten sich mehr, oder weniger daran. Im Fleischgeschäft am Brunnenmarkt trägt niemand Mund-Nasenschutz, in der Straßenbahn alle.
Nicht alle haben die Pandemie unbeschadet überstanden. Wenn auch keines der Kinder, Kindeskinder, oder die Schwiegereltern erkrankte, die Krise verlangte ihren Zoll: Judith war 2019 zur Innovationsdelegierten Österreichs in Israel ernannt worden – dann zerbrach die israelische Regierung und die Koalition in Österreich, zuletzt kam der totale Lock-down und nichts ging mehr. Ihre Kinder konnten nicht die Schule besuchen, die philippinische Haushälterin musste nach Wien. Die Regierungen ließen sich Zeit, hatten andere Sorgen als den Austausch von Hochtechnologie – die plötzliche Änderung des Lebens, des Alltags und der Möglichkeiten änderten auch die Einstellungen der Ministerien zur Eroberung neuer Märkte. Man wurde bescheidener, die Mittel wurden anderweitig gebraucht, man schöpfte nicht mehr aus dem Vollen. Das Technologiebüro Israel, das nach der österreichischen Neuwahl eine neue Führung eines neugeschaffenen Ministeriums bekam, sollte nun für Umweltschutz, Nachhaltigkeit und Klimaverbesserung arbeiten. So erlebte Judith plötzlich eine Welt, die sie so nicht hatte erwarten können. Ihre Rückkehr nach Österreich wird wie ein Wunder die Wunden schließen helfen.
Vieles wurde auch danach anders: der geplante Seeurlaub im August mit Peter wurde zum Familientreffen seinerseits, statt unsere Freundschaft zu stärken. Manches will noch lange nicht werden: Der Tempelvorstand schreibt jede Woche, dass es besser ist, wenn man nicht in den Tempel kommt. Abstand, Erkrankungen an CoVid-SARS 19, Angst und Schrecken werden verbreitet, selbst das ausgegebene Gebet für die Errettung scheint die Gläubigen nicht zu beruhigen – gerade dort wo man es am ehesten erwarten würde, scheint es an Gottvertrauen zu mangeln.
Früher, vor der Pandemie, ja früher, da hat man sich umarmt. Als ich kürzlich in der Stempfergasse in Graz beim Frankowitsch sitze schau ich jede*n kritisch an, der den/die andere mit einem Gesellschaftsküsschen begrüßt. Früher, ja früher, da ging man ins Theater, zu den Festspielen nach Salzburg. Die Aufforderung Karten für die Saisoneröffnungen der großen wiener Theater zu kaufen, werden mit Infos zum Verhalten ausgesandt. Wie schön ist es, dass ich schon mal im Theater war, ich habe die Salzburger Festspiele gesehen als man sich noch umarmen, als man nebeneinander sitzen konnte, als man sich als Publikum fühlen konnte und nicht in der Pause das Brötchen, den Kaffee, oder den Sekt durch eine Maske einnehmen sollte. Es sind die Kleinigkeiten, die das Leben lebenswert machen. In meinem Fall ist es die Erinnerung und die Freude über das Erlebte, die Gewissheit, dass es schön gewesen ist und – dass ich nicht vergesse ihnen zu erzählen (so wie bei den jüdischen Witzen F. Muliars) – die zwei wunderschönen Quartiere, die ich erworben und gehalten habe. In dem einen mit Blick auf den Schöckl zu sitzen, den ich manchmal vorher bestiegen habe, in dem anderen mit Schwimmbad zu leben, den köstlichen Wienerwald in allen Jahreszeiten genossen zu haben – das war wunderbar. Heute blühen die letzten Zyklamen, die Brombeeren werden reif, an manchen Stellen sind sie noch grün; die erste Herbstzeitlose habe ich entdeckt. Die anderen werden bald kommen, heute waren sie noch in ihren Zwiebeln versteckt, kein heller, weißer Halm war an den Stellen zu sehen an denen sie im Schatten des Walds auf dem Plateau der Sophienalpe wachsen werden. Ich strebe nicht zurück in eine angebliche Normalität, ein etwas voraussehbarer Sommer – das würde mir reichen.