Der Hintergrund der eigenen Mutter wird jedem Kind ein Rätsel bleiben. Manche Geschichten sind erinnerlich, manche wurden erzählt, vieles fehlt. DasFehlende wird mit Mörtel aus Annahmen verkleistert, die Tapeten kommen aus der Literatur, die in der Kindheit und Jugendzeit meiner Mama Sylvia Scheer, geb.: Blumenfeld spielt. Trotzdem: es ist meine Erinnerung und es lebt niemand mehr, der sie korrigieren könnte.
Meine Mutter Sylvia wuchs behütet in Wien auf: zuerst die Amme (siehe dort) Ida und dann die französische Madame. Die lebte vier Jahre mit meiner Mutter im selben Haushalt und bekam in den Erzählungen nie einen Namen. Sie war streng, unherzlich und liebte Kinder nicht. Mamas Eltern hatten wenig Zeit: Oma verließ um ½ 8 das Haus, um ins Geschäft in der Plankengasse/Hoher Markt zu gehen. Opa wohnte mit seiner nebenehelicher Partnerin Minna in der Kanzlei hinter der Börse. Meiner Mutters Vorkriegsjugend trug sich in einem Radius von maximal einem Kilometer zu: sie wohnte in der Wipplingerstraße 21 am Tiefen Graben, ihr Vater lebte hinter der Börse, ihre Schule war in der Kurrentgasse Ecke Tuchlauben und die Großeltern jenseits der Uraniabrücke in der Sebastian Kneippgasse. Mama erlebte nur in den Sommerferien Österreich: das Wiener Becken wo die Familie in Gainfarn Sommerfrische machte.
Nach Kärnten und sogar bis Venedig kam sie mit fünf Jahren und das war damals wirklich eine REISE (wie es für viele Österreicher*innen bis heute ist)! Ich nehme eine sehr behütete Kindheit und frühe Jugend an. Die Tage waren genau strukturiert. Mamas Stolz blieb es in der Erinnerung, dass sie ab neun Jahren allein in die Schule gehen durfte. Der Weg war überschaubar: sie ging über den Judenplatz und dann an der Bäckerei Grimm vorbei aus der es heute wie damals gut riecht in die Kurrentgasse und war schon vor der Schule. Ich weiß nicht mehr, ob sie die Straße überqueren musste, aber wenn dann war es der Tuchlauben – da musste man maximal auf die Fiaker aufpassen, so wie heute auch. Mittags wurde sie vom Dienstmädl, oder Madame abgeholt. Zu Hause wartete die Köchin mit dem Essen ihre Mutter kam dazu, legte sich nieder und ging dann wieder ins Geschäft. Die Kinder machten Hausaufgaben und man besuchte Ballett, oder einen anderen Nachmittagsunterricht zum Beispiel Französisch. Winters wurde am Wiener Eislaufverein geschlittelt sommers ging‘s ins Dianabad zum Schwimmen und rutschen, das in spätklassizistisch jenseits des Donaukanals prangte. Ihre Mutter liebte das Dampfbad, die Mikwe der nicht orthodoxen Hausfrau. Das eine oder andere Mal wird Sylvia bei den mütterlichen Urgroßeltern vorbeigegangen sein. Das Dianabad war im 2. Bezirk, auf der Mazzesinsel, wie die zwischen Donau und Donaukanal gelegene Insel von den Wienern genannt wird, wo bis 1939 die Mehrheit der Bevölkerung jüdisch war.
Sommers ging’s ins Freibad vorzugsweise ins Gänsehäufl aber auch ins Arbeitersstrandbad. Allerdings natürlich nur ab dem Zeitpunkt an dem Sylvia schwimmen konnte und bis zum Eintritt in die Pubertät. Danach war es nicht mehr schicklich.
In Sylvias Klasse bei Luitland waren 2/3 jüdische Mädchen der Mittelklasse. Sylvias Mutter Syska Blumenfeld, geborene Landau, hatte 1924-39 ein Miedergeschäft Ecke Hoher Markt/ Plankengasse. Es reichte 10 Fensterfronten in die kleine Gasse hinein. Leichte Damen und flotte Mädchen, die auf der Kärntnerstraße und am Graben flanierten, um Kavaliere zu treffen waren ihre besten Kundinnen. Wohlhabende Damen der zumeist neureichen Gesellschaft der Kriegsgewinnler und Schwarzhändler stellten, ergänzten den Kundenstock. Sie hatte 10 – 15 Angestellte im Geschäft, fürs Haus Dienstmädchen, Köchin und Sylvias französische Madame, die nach der Amme Ida das Kind betreute. Ida war und blieb lebenslang Sylvias zweite Mutter. Der Schmerz, dass Ida sie verlassen musste, konnte meine Mama bis ins hohe Alter plötzlich überfallen.
Ida war eine Magd aus der Gegend St. Veit/G. Sie gebar unehelich ihren Sohn Kurt, den ihrer Mutter übergab und ging als Amme in Dienst. Oma hatte keine Muttermilch, genauso wie später meine Mama. An sich wäre eine Amme nicht nötig gewesen J.v. Liebig hatte Kindernahrung lange vorher erfunden. Oma wollte aber, dass ihre Tochter Muttermilch bekommt und konnte es sich leisten. In Gorlice gab’s noch keine Flaschennahrung, vielleicht war man sich auch nicht sicher, dass sie koscher ist. Klein Sylvia hatte eine primäre Beziehung zu Ida und vice versa, die mit ein Grund für die lebenslange Fröhlichkeit und Lebenspositivität gewesen sein mag. Es war aber üblich, dass die Amme nach der Entwöhnung das Haus verließ. Es war ein kleines Wunder, dass Ida die meiner Oma eine Stütze gewesen ist, als Oskar sie verließ bis zum fünften Lebensjahr des Kindes im Hause bleiben durfte. Sogar danach schickte man sich zu Ostern und Weihnachten gute Wünsche – im Kuvert lag eine Kinderzeichnung Sylvias und fünf Schilling. Ich erinnere Ida und ihren Sohn Kurt. Ich durfte als kleiner Stoppel von sieben Jahren eine Runde auf Kurts Motorrad (Puch 250 ccm) zwischen Lenkrad und Tankdeckel mitfahren. Kurt hatte eine Lederjacke an und war ein toller Bursche. Der Schein trog: ohne Mutter fehlte das „Urvertrauen“, die Jahre im 2. Weltkrieg taten ihr übriges und rauchen und Alkohol das ihre – Kurt starb Mitte Fünfzig, Ida fühlte sich schuldig und weinte sich selten bei meiner Mama aus, wenn sie sie selten aber doch in Wien besuchte. Ida war und bleibt mein positiver Anker in Kärnten, das ich durch meine erste Frau Ingeborg noch besser kennen und lieben lernte. Allerdings ist diese Liebe leider einseitig. Weder wurde ich praktischer Arzt am Weißensee noch in Kolbnitz, noch werde ich in Kärnten mehr, als badender Tourist. Jetzt beim Schreiben fällt mir auf, dass ich Idas Grab in St. Veit/Glan nicht aufgesucht habe, obwohl ich dort oftmals vortrug. Sogar ihren Nachnamen wüsste ich nicht mehr und es gibt Niemanden mehr, den ich fragen könnte.
Die Haushälterin, die zugleich Köchin war, stellte sich nach der Okkupation Österreichs als illegale Nationalsozialistin heraus. Sie schlug ihren Kostümkragen um. Dort prangte das Hakenkreuz. Zuletzt ist die Wäscherin, die man Zugehfrau nannte, zu erwähnen. 1938 musste sie verabschiedet werden, weil Arier nicht bei Juden arbeiten durften.
Sylvia besuchte die Privatschule bis zum Ende der 4. Gymnasialklasse bei Luitland nach dem Modell der in unmittelbarer Nähe liegenden Experimentalschule für Mädchen von Frau Dr. Eugenie Schwarzwald was aus ihr eine sehr selbstbewusste Frau machte.
Sie hatte es nicht leicht. Ihre ältere Schwester Edith, vier Jahre älter am 03.01.2020 geboren, war das „Genie“. Nur Einsen im Zeugnis – ein schönes Kind und eine schöne junge Frau. Liebling ihres Vaters, wohingegen meine Mama Verbündete der verlassenen Frau war. Edith war der Feminismusstar, Sylvia die „arme Schwester“, die von der Frauenbewegung als das zu befreiende Objekt angesehen wird. Edith trug ihre frische Jungmädchenbrust stolz hinaus, Sylvia schämte sich für ihre Brüste, wollte keinen Büstenhalter tragen, obwohl er etwas Neues aus USA war und Oma BHs verkaufte.
Nicht lange nach Sylvias Verhaftung im April 1938 durch die GESTAPO und dem Verhör am Morzimplatz konnte Ima die Ostmark mit einem Schüleraffidavit verlassen.
Die Schwierigkeit mit dem Frausein gab Mama meiner Schwester weiter. Daphne wollte mit 14 keinen BH und Ima fand es unschicklich keinen zu tragen (heute spräche man von „Nippelgate“). Die Studentenbewegung befreite Daphne von den sexuellen Regeln und Zwängen der Kriegsgeneration und folgerichtig vom BH. Vorm Krieg war voreheliche Sexualität anstößig, geschändete oder entehrte Mädchen gingen ins Wasser, wie in A. Schnitzlers Theaterstück Leutnant Gustl. Ein anständiges Mädchen ging unberührt in die Ehe, ein jüdisches sowieso. In den fortschrittlichen Kreisen im 1. Bezirk gab es schon Mitspracherecht der Mädchen bei der Auswahl des Ehepartners, auf der Mazzesinsel nicht. Sylvia führte Tagebücher, in die sie ihre Jungmädchenflausen schrieb. Sie hatte Stammbücher, in die die Kolleginnen und Lehrerinnen Einträge machten: „Rosen, Tulpen, Nelken – alle drei verwelken, aber unsere Liebe nicht;“ oder: „Wer Dich lieber hat, als ich, der schreibe sich hinter mich!“ Die beste Freundin wollte das Buch immer als erste haben, denn nur dann konnte sie diesen Spruch auf die letzte Seite schreiben. Sylvias Stammbuch ist nicht erhalten, das Tagebuch gab‘s noch länger heute ist es verschollen. Damals wurde ein Tagebuch mit einem Schlüsselchen verschlossen, der an einer Kette um den Hals getragen wurde. In meiner Kindheit hatte Daphne auch ein Tagebuch, nur leider ließ sie den Schlüssel zu Hause als wir beide zu einem Machane des Hashomer Hazair fuhren. Ima las unberechtigt und fand Hinweise auf Daphnes erste Liebe zu Michael. Der war schon 16 Jahre alt, groß, dick und (siehe bei „Daphne“ für Mama unerträglich. Mama fand ihr Töchterchen zu jung für die Liebe. Sie holte uns aus Neuberg/Mürz ab. Endete in einem nie mehr wiedergutzumachenden Streit zwischen Daphne und Ima. Davon erholte sich die Beziehung genauso wenig, wie Daphnes Liebesbeziehungen.
Daphnes Vorliebe für Nesthäckchen wurde von Ima abgelehnt. Sie fand es bilde eine falsche Weltsicht für ihren Backfisch Daphne. Sie lehnte Nesthäckchen ab, weil es weltfremd sei. Sie zerriss einige der Bücher während Daphne heulend danebenstand, so als ob man ihre liebste Freundin umbringen würde.