Krankengeschichten

Diese Geschichte meiner Aufmüpfigkeit gehört zu meinen Lieblingen. Ich erzähle sie gern beim ersten Glas Wein, oder erst nach dem zweiten. Es ist die Geschichte eines Knechts. Eines Knechts, der den Gehorsam verweigert und dazu das Recht nützt. Meine Bewunderung für H. v. Kleists Michale Kohlhaas drückt sich darin aus, mein Respekt für Jaroslav Haseks Schwejk, meine Erziehung zu einem selbstbewussten Juden in einer judenfeindlichen Umgebung und nicht zuletzt meine geringe Körpergröße, die mich zu einem Provokateur gemacht hat.

Jeden 2. Mittwoch in den Jahren 1987 – 1994 kam mein Abteilungsvorstand der damals auch Klinikleiter war am Mittwoch frühen nachmittags auf Station im 6. Obergeschoss: „Krankengeschichtenkontrolle!“, sagte er. Ich hasste das. Schon als junger Arzt war es mir verhasst gewesen. Man dekursierte (Decursus morbi = Verlauf der Krankheit) täglich, schrieb das Neueste in die Krankengeschichte des/der Patient*in. Von 1975-2012 handschriftlich, manchmal strukturierter, meist Stichworte. Immer wurde bei den Kontrollen geschimpft, es war die schwarze Pädagogik wie sie in Österreichs Schulen teilweise bis heute praktiziert wird. Das wichtigste Utensil des Lehrers war und ist der Rotstift. Ermutigung gab’s nur für die Besten, die’s nicht brauchten. 

Ich war 1988 stationsführender Oberarzt einer Universitätsklinik geworden. Das war die Erreichung meines Lebensziels – nahe am Patienten,mit der Wissenschaft verbunden und interessanten Patientengeschichten. Nichtsdestotrotz – die alte Schulleier. Ich sagte: „Lieber Herr Professor (und das meinte ich), wir haben eine so gute und respektvolle Beziehung. Bitte hören wir mit der Krankengeschichtskontrolle auf. Es tut uns nicht gut. Sie und ich sind in der schwarzen Pädagogik aufgewachsen, wir kennen keine andere. Sie lesen die Geschichten mit dem Blick dessen der Fehler sucht, ich sitze wie ein begossener Pudel neben ihnen. Alle Kreativität, alle Begeisterung für meinen Job und die Patienten gehen verloren. Die Szene stammt aus dem Handbuch der Demotivation.“  Darauf er: „Das muss sein. Ich muss die Krankengeschichten kontrollieren.“ Schade, dachte ich mir, aber besser konnte ich meine Auffassung nicht formulieren. Mehr Mut hatte ich nicht.

Doch, ich hatte. Am nächsten Mittwoch als der vermaledeite Ruf erscholl, kam ich froh aus dem Stationsarztzimmer raus. Der liebe und liebenswerte Chef freute sich, dass ich so gut drauf war. Er freute sich immer, wenn seine Mitarbeiter*innen froh waren. Er hat seine Tätigkeit als Auszeichnung erlebt, sein Wirken als das Beste was er tun konnte und selbst als er auf europäischer Ebene an den Grundlagen medizinischer Ethik arbeiten konnte, war er im Wortsinn beseelt. Ich sagte froh: „Wir haben keine Krankengeschichten.“ Darauf war er nicht vorbereitet: „Was heißt das? Sie müssen Krankengeschichten haben!“ Völlig überflüssig ihn an den Dialog von vor 14 Tagen zu erinnern. Er kannte mich und erinnerte sich gut. „Also,“ versuchte er zum Alltag überzugehen, so als ob er mir meine Unbotmäßigkeit verzieh: „Sie müssen doch Krankengeschichten führen.“ „Ich habe damit aufgehört, es tut mir und uns nicht gut.“ „Aber Sie sind dazu verpflichtet, die Hülle der Krankengeschichte kommt gemeinsam mit der Ambulanzkarte bei der Aufnahme auf Station.“  Das stimmte, es stimmte auch, dass wir natürlich im Schwesternstützpunkt Krankengeschichten hatten, aber ich war nicht mehr gewillt den bestrafungswilligen Schüler zu spielen: „Da habe ich mich schlau gemacht. Im Krankenanstaltengesetz steht, dass der Abteilungsleiter für die Führung der Krankengeschichten verantwortlich ist. Im vorliegenden Fall sind das Sie, Herr Professor. Darf ich Sie fragen wo Sie die Krankengeschichten haben?“ Er war fassungslos: „Das wird doch seit jeher an die Oberärzte delegiert!“ (Oberärztinnen gab es damals nicht, oder nur in den Spezialambulanzen.) „Ach so,“ ich nicht faul: „Sie haben also diese wichtige Tätigkeit an mich delegiert. Mir liegt kein diesbezügliches Schreiben vor.“ Das war sein wunder Punkt. Er fand, dass man im selben Haus nie schriftlich miteinander verkehren sollte. Das wäre ein Ausdruck von Streit und tendiere dazu Unversöhnlichkeiten herzustellen. „Das muss ich auch nicht – das ist Usus.“

Nun muss man wissen, dass ich nach meiner Habilitation in einer quasi Automatik pragmatisiert wurde. Da es das 2020 nicht mehr gibt nur so viel dazu: Pragmatisierung war ein unter Maria-Theresia eingeführter Schutz der Beamten vor Einflussnahme. Sie sollten ihre Arbeit der Krone, dem Gemeinwohl gemäß den Gesetzen treu verrichten und konnten nur im äußersten Fall (Handlungen, die mit mehr als 6 Monate Haft bestraft wurden; Majestätsbeleidigung u.ä.m.) entlassen werden. Wurden sie entlassen waren sie fast vogelfrei. Nicht einmal Arbeitslosenunterstützung bekamen sie mehr, keine Pension – sie hatten alles verwirkt. So lange sie aber im Dienst standen bekamen sie keinen Lohn, kein Gehalt, sondern eine Entschädigung. Selbst im Ruhestand bleiben sie Beamte, die in ihrem Auftreten und ihren Handlungen Österreich repräsentierten. So ein stolzer Beamter bin ich. Mein Chef hätte mich vielleicht nach Verurteilung wegen eines nachgewiesenen Kunstfehlers entlassen können, aber selbst das war nicht wahrscheinlich. Keinesfalls wegen meiner Rechtsauffassung, dass er die Obliegenheit der Führung der Krankengeschichten hätte schriftlich delegieren müssen.

Da standen wir nun. Jeder im Recht. Ich stritt für eine wertschätzende Beziehung in einem Abhängigkeitsverhältnis er wollte, dass alles seine Ordnung hatte. Zu oft war er meinetwegen unter Druck gekommen, weil viele Kollegen eifersüchtig auf unsere Beziehung waren, mir und meinen Patient*innen Unangepasstheit vorwarfen, oder fanden, dass eine Psychosomatische Station inmitten der „anständigen“ Somatik nichts verloren hätte und vieles anderes mehr. Und jetzt das: ich verweigerte den Unterwerfungsakt, stellte mich nicht der geistigen Auspeitschung, sondern wies den Chef darauf hin, dass der Fehler bei ihm läge.

Er blieb fassungslos. Ein kleines Grüppchen hatte sich um uns gebildet, es war Zeit für die Nachmittagsvisite. „Gibt’s sonst noch was?“, wandte er sich an meine Stationsärztin: „Nichts, danke“, antwortete sie. Kopfschüttelnd und geknickt verließ er die Station. Seine Größe bestand darin, dass er sich nicht rächte. Er hätte die Stationsführung jemand anders geben können; er hätte den Schwerpunkt auflösen können; er hätte vieles machen können. Aber er machte es nicht.

Er kontrollierte keine Krankengeschichten mehr bei mir. Manchmal sah ich ihn, wie er sich von der Stationsärztin Krankengeschichten zeigen ließ, heimlich und ohne mich. Sie war in einer christlichen Schule gewesen, die beiden harmonierten in der Art der Pädagogik weit besser, als er und ich.

 

2020 sind mein Chef und ich seit langem im Ruhestand. Die kleine Geschichte steht nicht zwischen uns. Klar wurde aber am letzten Tag seines Dienstes, wie es um uns bestellt war. Er bot mir überraschend das Du-Wort an. Ich wollte zurückweisen, konnte das aber aus Höflichkeit nicht. So sind wir beim schlechten Du geblieben, es wäre altösterreichisch ihn: „Du, Herr Professor!“ anzusprechen. Das mache ich nicht, die Zeiten sind vorbei. Zur Freundschaft haben wir’s nicht gebracht, weder damals noch heute. Sondern zu etwas Höherem: Respekt.