Was kam auf die beiden kleinen Kinder zu, die die Hitze gewohnt waren? Was musste sich ändern, damit sie sich an die Kälte und an die relative Einsamkeit gewöhnen. Vor dem ersten Wohnort in der Wohnung meiner väterlichen Großeltern Irma und Berthold Scheer finde ich keine Fotos. Wir wohnten in der Heiligenstädterstraße 163, fast gegenüber des Karl Marxhofs, der roten Festung der Schutzbündler in der Zwischenkriegszeit. Vor dort wanderten wir auf die Hohe Warte, oder zur Nussdorfer Schleuse.
Ich hasste es: Irma vertrug mit ihren musikalischen Ohren nur meine Schwester, mit der sie die Lieder Conny Froeboes sang. Ich scheinbar ruppiger Bub erinnere vor allem ein dunkles Kabinett in dem ich mich eingesperrt fühlte. Aber alles besser, als was wir durch die dünnen Wände hörten: da wurde unser Spielkamerad regelmäßig verdroschen und schrie. Die Eltern eröffneten 1956 ein Geschäft für Waren aller Art am Allerheiligenplatz.
Irma ging ins Geschäft und Goscha auf den Kahlenberg, oder zu Paula – ich weiß es nicht. Daphne besuchte die jüdische Volksschule und ich den Kindergarten in der Nähe der Hohen Warte. Nachmittags kam Paula, die am Vormittag im Geschäft aushalf, oder ihre Rolle als Zweitfrau mit Goscha ausfüllte. Irma verschloss sich Goscha seit er ihr beim Fronturlaub Frühjahr 1917 zwei Geschenke mitgebracht hatte: meinen Vater und Gonorrhoe.
Alle Erfahrungen waren neu: Kälte, Dunkelheit und sehr, sehr angespannte Stimmung in der Zimmer-Küche-Kabinett Wohnung. Dazu Armut, keine Früchte mehr, vor allem Fleisch und sonntags in den Wald. Das musste sein, jeden Sonntag. Samstag waren die Geschäfte offen und ich weiß nicht mehr, ob man nicht auch samstags zur Schule ging. Heute hören die Menschen am Freitagnachmittag zu arbeiten auf, aber mir kommt vor, dass sie die Sonntagsruhe weniger schätzen. 1956 gingen viele Menschen in die Kirche, zu Sonntagmittag gab es Fleisch und am Nachmittag wurde geruht. Sport war etwas für junge Menschen, Niemand fuhr mit dem Fahrrad, wenn es nicht erforderlich war und man ging auch nicht zu Fuß.
Vor den Heiligenstadt in die Stadt nahm man die Straßenbahn der Linie D. Ich wünschte mir und bekam ein Schaffnerkapperl und eine Umhängtasche und wurde zur Belästigung der Mitreisenden: Ich fragte wo wer aussteigen wollte und zwickte die Karten entsprechend. Jede Station rief ich aus. Man zahlte nämlich je nach Strecke auf einer langen Karte, auf der der Preis der Fahrt sich daraus ergab. Nur beim Kassieren hatte ich Schwierigkeiten, so dass meine liebe Mama den Menschen Spielmünzen gab, mit denen sie meinen Fahrschein kaufen konnten. Ich kannte ich alle Stationen des D-Wagens auswendig, so wie Paul Hörbiger in dem Film Endstation.
Ich freue mich so, dass ich die Bilder mit meiner Schwester gefunden habe. Wenn sie mich auch regelmäßig schlug und Vorteile für sich ausnützte (zum Beispiel das Liebkind beider Großmütter zu sein), so waren wir uns doch gut und sie mein Idol. Sie wusste alles und kannte alles und passte auf mich auf. Schade, dass das durch die Scheidung der Eltern, die sie zerstörte, verloren ging.