Man sagt, dass man eine Biographie chronologisch schreiben soll. Man sagt, dann würden sich die Leser*innen auskennen. Man sagt, man muss so vorgehen, sonst wird das nichts. Ich glaube das nicht. Alle Erinnerung ist Erfindung.
Indem wir uns erinnern, erzeugen wir eine Wirklichkeit, die in dem Moment, in dem wir sie erzeugen zu uns passt und zumeist auch noch zum Menschen, dem wir das erzählen. Wirklichkeit ist erzeugt, sie entsteht in uns indem wir sie so benennen. Israel ist mein Geburtsstaat, meine Heimat, mein Herkommen. Das ist schon falsch. Ich wurde in einem deutschsprechenden Teil Tel-Avivs geboren und bin dort die ersten drei Jahre meines Lebens aufgewachsen. Meine Sprache und die meiner Umgebung war immer Deutsch. Dass in den Legenden der Bibel steht, dass Israel das Gelobte Land ist, wusste ich damals nicht. Jetzt, wo ich es weiß, kommt es mir unwahrscheinlich vor.
In dem Moment, in dem ich das schreibe, am 28.11.2019 um 10:38 wehen die grünen Blätter der verschiedenen Bäume vor meinem Fenster in der Rechov Sokolov.
In der Wohnung meines Sohns putzt gerade eine schöne junge Brasilianerin den Fußboden mit einem Staubsauger und macht modernen Lärm, weil der Sauger einen extrastraken Motor hat. Nach der wunderbaren Nacht neben meiner lieben Frau Marguerite, habe ich meine Sachen zusammen gesucht: die Spazierhose mit guten Taschen für das Handy und den Schlüssel, ein Poloshirt von Bogner und meine Sportschuhe und bin ein paar Kilometer nach Jaffa gegangen, habe in der Peter und Paul Kirche kurz verweilt – bis mich ein junges Ehepaar mit zwei Kindern, die immer wieder etwas sagen, oder fragen wollten und nur ein "Psst!" zur Antwort bekamen, vertrieben. In Jaffa habe ich ein grünes Fahrrad der Stadtverwaltung ausgeborgt, bin bis Rechov Frishman auf der Tayelet gefahren, wollte dann schwimmen gehen, aber das Meer war mir zu stürmisch. Rote Flaggen auf den Häuschen der Strandwärter zeigten an, dass man nur so weit ins Meer gehen durfte, so lange man stehen konnte.
Ein mohnbestreutes Baguett kaufte ich im Lechem v’shut Ecke Ben Jehuda, Ben Gurion und einen Früchteteller beim Tamar. Die kleingeschnittenen Früchte esse ich jetzt, leider ohne Müsli und ohne Milch, weswegen sie mir sehr sauer sind.
Israel, meine unausweichliche Liebe: Als Kind war ich ein Junger Wächter (HaSchomer hazair), der Kibbutzim in niederösterreichischen Wäldern beim Geländespiel errichtete. Als Jugendlicher sollte ich in der marxistischen Studentenorganisation die Sache der ehemaligen arabischen Bevölkerung vertreten, die von den Arabern der umliegenden Staaten in politischer Geiselhaft gehalten wurden und "Palästinenser" genannt werden, nach dem Namen des englischen Mandatsgebiets. Wegen meiner Weigerung das mitzutragen, wurde ich ausgeschlossen. Als junger Erwachsener mit einer nicht-jüdischen Frau und zwei Töchtern wollte ich nach Israel auswandern, aber man wollte weder meinen Beruf als Kinderarzt noch die nicht-jüdischen Kinder. Als alter Mann wollte ich wieder einwandern, aber die Willkommenskultur war die gleiche geblieben. Ich hatte nicht in der Armee gedient, auch meine drei Söhne nicht und schon gar nicht meine beiden Töchter und ich kann nur ein paar Worte Ivrit.
So bin ich ein Neuweinwanderer ohne Einwanderung geworden. Ein Eidereinwanderer, Toschaw Hozer. Ich bin zu Hause ohne Heimat und ohne Wohnung, gern bei meinem Sohn gesehen – aber auch das kann sich ändern. Was macht den umherirrenden ewigen Juden aus? Die Verfluchung durch den kreuztragenden Jesus, dem er das Glas Wasser verweigert? Die Aufgabe das Ethos in der Welt zu verbreiten? Die Angst vor der nächsten Verfolgung durch jene, denen er Gottes Ethos näherbringen will, oder zumindest vorleben? Oder seine Unfähigkeit zu Grund und Boden eine Beziehung auszubauen, weil er das nie gelernt hat?
Alles und nichts. Der Ewige Jude ist eine Legende wie viele. Hier in Israel gibt es viele Menschen, die das Land als ihre Heimat bezeichnen. Es gibt Einwanderer*innen aus Sudan und Eritrea, die perfekt Iwrit sprechen, es gibt russischstämmige Menschen die mehr Russen, als Juden waren und jetzt Israeli sind und es gibt alle Schattierungen aller Glaubensrichtungen, Ungläubige und Ausländer – und viele von ihnen sind zu Hause. Nur ich bin verliebt in das Land, benütze manchmal einen Monat lang ein Zimmer und komme nicht an.