Intuition und Geruch

 

 

Alle Wahrnehmungsorgane dienen dem Arzt zu einer diagnostischen Vermutung. Deswegen habe ich den Computer in der Ambulanz als meinen Feind angesehen, obwohl ich jetzt mittels eines Notebooks schreibe. Der Computer lenkt ab. Wach sein, die Englischsprechenden nennen es „awareness“ ist erforderlich. Man kann das kaum steuern, ob und wann man „eingeschaltet“ hat. Zwei Episoden, bei denen ich offensichtlich eingeschaltet war, erzähle ich. Vielleicht rundet es eine Dritte bei der ich im Dunkeln blieb ab.

 

 

Ich durfte Nachtdienst in der Hauptambulanz der Univ.-Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde machen. An sich war ich für diesen Dienst zu alt, zu arriviert, aber ein Zerwürfnis an der Infektionsabteilung, an der ich Ende der achtziger Jahre den vermeintlich bequemeren Nachtdienst machte, hatte mich dorthin geführt. Ein Kollege, der wiederholt Daten für wissenschaftlichen Arbeiten gestohlen hatte, hatte mich völlig zu Unrecht des Datendiebstahls bezichtigt. Es war eine „Haltet den Dieb“ Aktion. Er starb jung, Friede sei mit ihm. Es wurde mir im Nachtdienst nur mehr der Vorraum des Sekretariats aufgesperrt. Die versperrte Tür zum Hauptraum erinnerte mich an die versperrten Türen meiner Kindheit, als meinem Vater der Zugang zum Wohnzimmer mit Schlüssel – Schloss Konstruktionen verwehrt wurde, weil – wie meine Mutter fand – er Schallplatten stahl. R. Kurz, mein lieber Chef, wollte mir mit verzwickter Miene die „zehn Punkte, die ich im Nachtdienst zu beachten hätte“ in einem braunen Kuvert übergeben. Ich gab ihm das Kuvert ungeöffnet mit den Worten zurück: „Wenn das Vertrauensverhältnis zwischen mir und meinen Kolleg*innen so gestört ist, dass sie mir schriftlich Verhaltensregeln über Sie übergeben lassen, dann kann ich hier nicht mehr Dienst versehen.“ Entsetzt fragend was ich jetzt machen würde behielt  er das Kuvert. Mit der immer netten kaffeeausschenkenden Frau Glatz, Sekretärin der Infektionsabteilung, habe ich noch einmal gesprochen und ihr meine Enttäuschung, dass sie den Brief getippt hatte, mitgeteilt. Sie verstand nicht was ich vorwarf meine Assoziationen zum Gehorsam im 3. Reich kamen ihr weit überzogen vor. Was sie wahrscheinlich auch waren. Ich sprach nie wieder mit ihr. Sicher sehr ungerecht von mir. 

 

 

Jedenfalls kam ich so in den Dienst in der Hauptambulanz, nicht ohne vorher von Kollegen Stein, Ring und Höfler geprüft zu werden, ob ich denn dazu würdig und fähig genug sei. Nachtdienst war kein Recht, keine Pflicht, sondern wurde wegen Zusatzurlaub, Verdienst und Ansehen gemacht. Daher arrogierten sie sich das Recht ich zu prüfen, obwohl sie im gleichen Rang waren und ich war wieder mal klein und zitternd, aber stolz, dass ich diesen Brief nie geöffnet habe. Wie Prof. Kurz – Chef wider Willen – immer sagte: „Im gleichen Haus, in der Familie schreibt man sich keine Briefe.“ Aber das ist eine andere Geschichte.

 

 

Jetzt endlich.

 

 

Eine Familie kommt ins Zimmer fünf - Notfallambulanz: Vater, Mutter, zwei Töchter, 8 und 11 Jahre alt. Sie bringen den Geruch fauler Äpfel mit. Und es war Frühjahr. „Wer isst bei Euch alte Äpfel?“ frage ich. Dann schaute ich auf die Zuweisungsdiagnosen: Differentialdiagnose Lungenentzündung oder Magersucht. Da fiel der Groschen. Diabetiker atmen Ketone, Abbauprodukte des erhöhten Zuckers ab. Dazu atmen sie anders, als normal ähnlich wie Menschen, die an Lungenentzündung leiden. Diabetiker verlieren Gewicht, weil der übermäßige Zucker Wasser benötigt, um ausgeschwemmt zu werden. Diabetiker sind oft satt, weil der Zucker im Blut das „Hungerzentrum“ ruhig sein lässt, nehmen wegen der Ausschwemmung rasant ab – das kann eine*n Ärztin an Magersucht denken lassen. Aber: wer komisch atmet, Gewicht verliert und wie ein fauler Apfel riecht = Diabetiker.  

 

 

Meine nächste Frage war: „Gibt’s in der Familie Diabetiker?“ Die Mutter schaut mich erleichtert an: „Wir haben‘s uns eh schon g‘dacht. Meine Mutter und meine Schwester sind Diabetiker – da hat’s genauso ang’fangen!“ Diagnose gestellt – Therapie wurde eingeleitet – Anfang gut, alles gut.

 

 

Allerdings: 1986 kam ein Säugling an die Infektionsabteilung, komisches Atmen, Zuweisungsdiagnose: Verdacht auf Lungenentzündung. Ich hatte Dienst, Labor gab’s keines, Röntgen in der Nacht praktisch unerreichbar und ein obergscheiter Turnusarzt, der wiederholt das Richtige sagte: „Schick‘ ma des Kind zruck. Des is zu schlecht für hier!“ Eigentlich hätte der Säugling auf die Intensivstation gehört, aber er war mit Feuchtblattern (Varizellen) inkubiert, das heißt er hätte ansteckend sein können. Daher war uns geschickt worden, der Weg zurück ins „Haupthaus“ war verstellt. Ich saß die ganze Nacht beim Kind: es atmete sehr schnell, war offensichtlich kritisch krank, ich gab Sauerstoff, der Herr Turnusarzt löste mich ab. Wir rochen beide kein Keton (weil Säuglinge noch nicht genug Fett haben, das zu Keton abgebaut wird), dachten nicht an Diabetes, der selten so früh auftritt, erst der morgendlich frische Dr. A. Bottler dachte sofort daran und transferierte das Kind trotz Inkubation, nicht ohne mich sehr, sehr vorwurfsvoll anzusehen. Denn der Blick der „frischen“ Kolleg*innen am Morgen gehört zu dem Vernichtendsten was man sich vorstellen kann, wenn man etwas übersehen hat.

 

 

Diabetes habe ich als Kind bei meinem Großvater Oskar kennen gelernt (siehe Biographie)  und habe ich mich immer dafür interessiert. In Graz gab es dafür ein Spezialist*innenteam, so dass  Ärzt*innen die keine Endokrinolog*innen bei diesen Kindern nichts zu schaffen hatten.

 

 

Abschließend für heut eine Erfolgsgeschichte:

 

 

Ich sitze in der Mittagsbesprechung. Ich habe diese Besprechung, die von vielen meiner Kolleg*innen gehasst wurde gemocht. Dort konnte ich streiten, Kampfenergie loswerden und musste nicht im Dienst Ärger runterschlucken und dann zu Hause den Frust abbauen. Dort durfte man schmähen, wurde geschmäht, konnte sich zeigen, wurde angeklagt und freigesprochen – alles war möglich. Man musste wach und auf der Hut sein, besonders wenn man Nachtdienst gehabt hatte und ein*e Kolleg*in ein Kind vorstellte, das man gesehen hatte. Da konnten offene oder versteckte Vorwürfe gemacht werden, man musste sich manchmal verteidigen, aber nicht zu schnell, man musste warten ob man persönlich angegriffen wurde. Nicht unbedacht ins Feld gehen, wenn man gut rauskommen wollte.

 

 

Da erzählte der Vorstand der Klinik, Univ.-Prof. Dr. W. Müller, der neben seiner Tätigkeit als Leiter der Neonatologie und Vorstand der Klinik auch noch eine private Praxis betrieb und bei Geburten in Sanatorien als Kinderarzt tätig war Folgendes. Er hatte mit einem Lapisstäbchen (ein gestielter Wattetupfer, bei dem die fest gewickelte Watte Silber- und Kaliumnitrat enthält) einen Nabelrest bei einem dreitägigen Kind behandelt. Man macht das, um den Rest der Nabelschnur zu entfernen und gleichzeitig die Wunde zu desinfizieren. Drei Tage danach waren kleine Tupfen neben der Stelle die er behandelte, aufgetreten. Er wandte sich an alle. Ob wer wüsste was das sein könnte. Ich ergriff das Wort. Das war immer wieder lustig zu sehen wie die Kolleg*innen reagierten, wenn ich mich aus der Psychoecke in die Soma einmischte. Man reagierte pikiert. „Hat die Mutter Hautveränderungen?“ „Ja“, sagte Prof. Müller: „sie hat einen großen Nävus am Bauch.“ Diese Hautveränderung hat ihren Namen vom Muster, den die Pigmente auf die Haut zeichnen. Prof. Müller hatte das gesehen als er auf das Kind bei der Geburt wartete.

 

 

„Dann,“ so sagte ich weiter: „ist es eine Incontinentia pigmenti.“ 

 

 

Es geschehen Zeichen und Wunder. Christian Urban, Chef der Onkologie, nahm das auf: „Bloch-Sulzberger“, ergänzte er. Dabei schaute er mich wohl verwundert, aber anerkennend an. In der Tat hatte das Kind diese seltene Störung. W. Müller war ungläubig, aber nahm den Hinweis auf, obwohl einige Kolleg*innen sich skeptisch äußerten. Monate später kam der später zu Recht ausgezeichnete Neonatologe Gerhard Pichler, der von im Auftrag Müllers das Kind publizieren sollte. Er entschuldigte sich, dass ich nicht in der Autorenzeile aufscheinen würde und auch nicht in der Danksagung. Selten habe ich jemandem leichter verziehen, wie diesem von mir geschätzten, bescheidenen Kollegen, der vorher bei mir Assistent war. Als er 2012 meiner Stieftochter Elisabeth bei deren außergewöhnlichen Masterthese, die in einem Topjournal publiziert wurde half war das Dank genug. Willi Müller und ich fuhren 2008 auf Urlaub und ich bin mir sicher, dass ich nie erwähnte habe. Es soll fast so bleiben.