Vorgefertigte Ansichten sind immer ein Problem. Oder, wie mein Freund der berühmte Professor und Morgenwaldspaziergangsgenosse Helmut Kasper sagt: „Ängstliche Menschen sind kleinkariert. Je dümmer, oder je ängstlicher desto kleiner ist das Karo!“ Ich erzähle daraufhin eine Frage, die ich bei Prüfungen manchmal zur Auflockerung einstreute: „Wer entscheidet, ob bei einem Kind die Appendix entfernt wird, oder nicht?“ Die Student*innen gaben tolle Antworten: „Der Chirurg, das Blutbild, der Lokalbefund, der Temperaturunterschied zwischen der analen und oralen Messung etc.“ Die richtige Antwort war aber: „Der Portier“. Denn je nach Stimmung, Zugehörigkeitsgefühl. Bettenkapazität, oder Tageszeit (Kinderchirurgen des LKH Graz hatten bis 23 Uhr Ambulanzdienst, dann durften sie sich im Bereitschaftsdienst niederlegen. Kam also ein Kind nach 23 Uhr und war die Zuweisung: Bauchschmerz, dann weckte der Portier ungern den diensthabenden Assistenten und wies das Kind stattdessen an die Ambulanz der Kinderheilkunde ein.) bestimmt. Ist das Kind aber einmal in einem „Schlauch“, so sind Änderungen schwer. Hatte es Appendicitis so musste man: unklare Bauchschmerzen auf die Zuweisung schreiben; hatte es keine, aber die Eltern bestanden auf einer chirurgischen Untersuchung, so musste man zum Schutz des Kindes: App! auf die Zuweisung schreiben. Denn kein Chirurg lässt sich von einem Kinderarzt was anhasen (beauftragen) – er macht das Gegenteil und selbst das ist nicht verlässlich?
Den Menschen anschauen – das ist es, was der Arzt, die Ärztin machen soll. Unvoreingenommen und interessiert. Egal wo man Patienten trifft, egal was sie anhaben und wer was über sie meint. Denn das muss einem völlig gleichgültig sein: ich habe in psychiatrischen Abteilungen Menschen mit Herzrhythmusstörungen angetroffen (darüber gibt’s ein eigenes Kapitel – stay tuned!), in chirurgischen Abteilungen psychisch Kranke und in Ambulanzen Gesunde. Die Medizin verträgt keine Vorurteile oder Sätze wie: „Das habe ich schon oft gesehen!“ Vergleiche mit erinnerten Causen sind oft der Weg in die Irre.
Yilmaz kam von unserer Brandverletzteneinheit wo man versucht hatte die alten, vernarbten Verbrühungen des rechten Arms zu verbessern. Das war misslungen. Stattdessen war aufgefallen, dass Yilmaz von seiner Familie kaum besucht wurde, viel weinte und manchmal tobte. Warum konnte man nicht sagen. Yilmaz sprach türkisch, auf der Station srach niemand die Sprache.
Yilmaz kam während meiner Visite in der psychosomatischen Station im 5. Stock zwischen 9 und 11 Uhr von der Intensivstation im 4. Stock. Von einer Schwesternschülerin begleitet, kam er freundlich, unsicher lächelnd herein: „Verlegung von der Intensiv,“ sagte sie und ging. Yilmaz stand da. „Oh,“ sagte ich: „ein Adenoma sebaceum, ganz was Seltenes, lange nicht gesehen.“ Verständnislos schauten mich Ärzt*innen und Teilnehmer*innen der Visite an. „Was meinen Sie?“ „Die Hautveränderungen im Gesicht.“ „Die Akne?“ „Das ist keine Akne, das ist ein Adenoma sebaceum!“ jetzt schon mit erhobener Stimme.
Ich hatte es leicht. Phakomatosen waren seit Studententagen eines meiner Lieblingsgebiete gewesen. Es sind Missbildungen des Ektoderms, jenes Keimblatts, aus dem sich im Verlauf der Embryonalentwicklung Haut- und Nervenzellen entwickeln. Klassische Phakomatosen sind zum Beispiel Feuermale der Haut und im Gehirn können dieselben Areale betroffen sein.
1998 war das MRT des Schädels beweisend (heute wäre eine genetische Diagnose beweisend). Im MRT finden sich – vor allem, wenn Verhaltensauffälligkeiten, oder Epilepsie Teil der Krankheit sind, typische Veränderunen. Stolz auf meine Diagnose schrieb ich auf die Zuweisung an das Röntgen meine Diagnose: tuberöse Hirnsklerose!
Triumphierend lief mir am nächsten Tag in der Früh eine Ärztin mit dem schriftlichen Befund entgegen: „Kein Befund am Gehirn, Herr Professor – Diagnose falsch!“ Das „Herr Professor“ wird in solchen Fällen dazu verwandt, um die Blödheit des so titulierten zu unterstreichen und sich für die vom Chef vermutete „Unwissenheit“ zu rächen. Irgendwie zu Recht, denn der/die Turnusärzt*in will nicht immer der/die Blöde sein. Ich stürzte zum Computer, lud die Bilder auf den Schirm und war erleichtert: die Gummen unter der Großhirnrinde waren deutlich zu sehen – sie sichern die Diagnose. Sie sind eindeutig. Nun konnte ich meinen am ersten Tag begonnen Vortrag weiterführen und überdies die Verhaltensstörung Yilmaz‘ als Symptom der tuberösen Hirnsklerose einordnen. Ich nahm an, dass Yilmaz sich in einem eplieptischen Anfalls verbrüht hatte, oder dass er verbrüht worden war. Vielleicht zu Hause, weil sich seine Familie über sein Verhalten, die geistige Behinderung, die Sprachentwicklungsverzögerung nicht ertragen hatte.
Umgehend suche ich den Kinderradiologen auf, der einst mein Mitarbeiter gewesen war: „Hast Du die Gummen nicht gesehen?“, fragte ich ihn. Er fühlt sich im Recht, wurde zornig: „Es stand nichts auf der Zuweisung!“ Das war ein dummer Rettungsversuch: Denn Gummen, subependymale Hamartome, wie sie korrekt heißen kann und muss man sehen. Egal, ob es sich um eine Routineuntersuchung handelt, egal ob der zuweisende Arzt an tuberöse Hirnsklerose dachte. Es hätte auch sein können, dass Yilmaz wegen Epilepsie zur MRT Untersuchung kommt und der/die Radiliolog*in die Ursache der Fallsucht aufklärt. Aber bei Yilmaz hatte ich an die Diagnose gedacht und die Zuweisung selbst geschrieben, er hatte sie nur nicht gelesen. Er glaubte, dass die Kinderärzt*innen mit denen er Jahre zusammengearbeitet hatte, alle schlecht waren. Nur er war gut und wusste alles, oder glaubte es zumindest – eben kleinkariert.
Die richtige Diagnose konnte leider nicht alle Probleme Yilmaz‘ lösen. Es half, dass die Verhaltensauffälligkeiten nicht mehr als seine schlechten Gewohnheiten angesehen wurden, was die Art der psychologischen Betreuung veränderte. Das Gespräch mit den Eltern brachte wenig. Sie lehnten Yilmaz ab. Er war eine Enttäuschung für sie. Die Elternberatung änderte sich als wir von ihnen und der Großmutter Blut für die genetische Untersuchung haben wollten. Jetzt verstanden sie, dass Yilmaz krank nicht schlimm war. Die Diagnose änderte seine schulische Laufbahn – er wurde vom schlimmen zum kranken Knaben. Heute wird Yilmaz etwa 45 Jahre alt sein. 2020 gibt’s Medikamente, die die genetische Störung behandeln. Sollte Yilmaz eine Tumorerkrankung bekommen die für die tuberöse Hirnsklerose typisch sind, so kann ihm geholfen werden.
Zuletzt alle Kolleg*innen, die ihn vor mir in der Klinik gesehen hatten und seine Angiofibrome für Akne gehalten hatten, waren böse. Dass ich jedoch 2020 mich daran erinnere ist schön für mich. Ich war und bin stolz etwas gesehen, das die anderen über-sehen haben. Am meisten Freude soll einem in einem Dienst-leistungsberuf das machen: dass man unabhängig von der Herkunft, dem Glauben, der Dankbarkeit und der Anerkennung durch Kolleg*innen dienen durfte. Sucht man die Anerkennung, richtet man sich danach aus, wird man oft diagnostisch fehlgehen (weil man dann des Friedens und der Anerkennung willen in die vorhandenen Diagnosen einstimmt), als auch doppelt scheitern. Die Anerkennung wird ausbleiben und man selbst kann auf nichts stolz sein.
Mein Vorbild – der Erfinder der Operation an der offenen Lunge Ferdinand Sauerbruch wurde von der eidgenössischen Kommission zur Besetzung des Chefarztes der Chirurgie der Univ.-Klinik Zürich angeblich nur deshalb genommen, weil sich in Anwesenheit der schweizer Kommission so verhielt: Er sollte den Klumpfuß eines Kleinkinds beurteilen – Chefvisite vor der Operation. Die Schwester setzte das Kind auf einen Sessel vor den Herrn Professor. Plötzlich erstarrten die Anwesenden: das Kind hatte noch Schuhe und Socken an. In der damaligen Zeit (und auch noch in meiner) erwartete man ein Donnerwetter des Chefs. Nichts dergleichen. Liebevoll mit dem Kind redend hat Sauerbruch den Schuh und Socken ausgezogen, das Kind am Fuß gekitzelt und währenddessen die Operationsindikation diktiert.
So wollte ich als Arzt werden: kompetent und liebevoll. Yilmaz geht es hoffentlich gut.