Am Beginn unserer wissenschaftlichen Arbeiten zu Kleinkindern, die von einer Ernährungssonde abhängig waren, hatten wir ein Problem. Der sehr engagierte Thomas Trabi, der damals Kinder- und Jugendfacharzt werden wollte und dann Kinder- und Jugendpsychiater wurde, arbeitete jene 212 Kinder auf, die wir behandelt hatten. An sich sind diese im Jargon so genannten Krankengeschichtenabstaubarbeiten nicht beliebt. Da sie retrograde Studien sind, fehlen oft Daten, die Gefahr, dass die fehlenden Daten, welche geschönt werden, ist groß und die Hypothesen bestehen von Anfang an. Die Gefahr, dass das rauskommt was man vermutet ist dann noch größer als sowieso sie. Daher nehmen bedeutende wissenschaftliche Journale solche Studien nicht an. Diese kleine Geschichte erzählt von einem anderen Ausgang.
Thomas Trabi hatte mit meiner und Marguerites Hilfe 212 Kinder identifiziert, die wir wegen Sondenabhängigkeit behandelt hatten. Danach hatte er die anthropometrischen Daten (Länge, Gewicht, Alter etc.) aus den Krankengeschichten erhoben, Daten zum Verlauf, zu Krankheiten, die während der Behandlung auftraten, Nebenwirkungen unserer Behandlungen wie Gewichtsabnahme, oder auch Abbruch der Therapie kamen hinzu. Schon in diesem Stadium der wissenschaftlichen Bearbeitung unserer Tätigkeit der vergangenen Jahre (1990 – 2009), fühlten wir uns bestätigt. Die Kinder nach Früh- und Mangelgeburt, schweren Operationen, aber auch die, die auf Grund einer Interaktionsstörung nicht essen konnten, oder wollten (was meist ununterscheidbar ist und nur durch die Sicht des Betrachters entschieden wird) hatten es bei uns gelernt. Wir planten Thomas statistische Ergebnisse gemeinsam im Besprechungsraum an anzuschauen.
Der Tag kam, Thomas war sehr aufgeregt. An Hand der Statistik, die er angewandt hatte, zeigte sich, dass die meisten Kinder mehr als 10% unter der Therapie abgenommen hatten und dass viele sehr, sehr lang gebraucht hatten, um Essen zu lernen. Es war ein Disaster. Thomas in seiner verschmitzten Art meinte nur: „Pech gehabt.“ Marguerite sprang auf: „Das kann nicht stimmen! Wo sind die Grunddaten, das müssen wir überprüfen!“ In der Diskussion zeigte sich, dass Thomas ein Modell angewandt hatte, das Verläufe extrapoliert, sie quasi in die Zukunft verlängert. Man kann sich das so vorstellen, wie eine Linie, die mittels zweier Punkte konstruiert wird. Was für die einfache Geometrie genügt, kann bei Verlaufsstatistiken falsche Ergebnisse zeigen. Hatte Thomas zum Beispiel zwei Gewichtspunkte am Anfang der Therapie erhoben und in die Statistik aufgenommen, konnte es durchaus sein, dass ein vollsondiertes Kind in den ersten Tagen das durch „Überversorgung“ zugenommen Gewicht und Flüssigkeit in einem Ausmaß verlor, dass 10% und mehr abgenommen wurden. Zieht man die Linie weiter so hätte man – statistisch – ein verhungertes Kind.
Betroffenheit aller – Zurück an den Anfang.
Mein Kommentar war einfach, aber ebenso zerstörend: „Retrospektive Studie, schön und gut, aber wo ist die Vergleichsgruppe?“ Die zweite grundsätzliche Forderung hochrangiger Journale ist immer dann eine Vergleichsgruppe, wenn das Phänomen nicht ohnehin in der Bevölkerung so ubiquitär vorkommt, dass jede Überzufälligkeit in einer Wahrscheinlichkeitsrechnung als Beweis der Besonderheit angenommen werden kann.
Wir hatten keine Vergleichsgruppe und bisher auch kein Journal, das wir uns als Ziel gesetzt hatten. Allerdings waren wir damals, das Paper erschien 2010, in engem Kontakt mit der World Association for Infant Mental Health (WAIMH), die das Infant Mental Health Journal in Chicago als Medium hatte. Dorthin also.
Jetzt war guter Rat teuer: Die Statistik zeigte verhungernde Kinder – also unbrauchbar. Keine Vergleichsgruppe – also unwahrscheinliche Publikation.
Thomas war noch unerfahren und sofort bereit alles zu vergessen und sprichwörtlich die Flinte ins Korn zu werfen. Marguerite war zwar positiv und fröhlich, hatte aber wenig Hoffnung, dass wir das zur Publikation bringen könnten. Fast zehn Jahre klinische Arbeit und ein Jahr Datengenerierung wären dann kaputt gewesen und wir hätten weiterhin Papers von Menschen gelesen, die bei Weitem nicht so viele Kinder gut betreut hatten, wie wir.
Im JIMH gab es damals schon DIE Arbeit, die sich mit kranken Kindern beschäftigte. Diane Benoit hatte in Kanada genau dasselbe Klientel erstmals beschrieben und die Therapie in einem Spital und wie diese verlief. Diane, die später das Spezialgebiet wechselte, hatte das Klientel OHNE Vergleichsgruppe beschrieben, wie man es nur kann, wenn es sich um ein ganz neues Phänomen handelt, das die medizinische Wissenschaft noch nicht kennt, einfach um darauf aufmerksam zu machen. Sie hatte überdies einen statistischen „Trick“ verwandt: sie nahm eine sogenannte Todesfallstatistik aus der Krebsheilkunde. Dabei wird jedes Kind, das unter der Therapie stirbt aus der Statistik entfernt, die so eine immer kleinere Gruppe untersucht, die die Therapie weiter enthält. Insofern ist das eine dynamische Statistik, weil nur die Überlebenden das Ergebnis beeinflussen. Diane hatte das auf den Kopf gestellt: sie ließ alle Kinder, die Essen gelernt hatten im Sinne der Statistik „rausfallen“ und bekam so eine Treppe der Erfolge.
Wir wandten dieselbe Statistik an und hatten so zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Dianes fast gleichgroße Gruppe war unsere Vergleichsgruppe (ebenfalls von einem multidisziplinären Team in einem Kinderspital (Toronto) behandelt) und wir hatten eine Statistik in der jeder! “Erfolg“ einem Todesfall gleichgesetzt wurde, womit nur die Verbliebenen einer weiteren Therapie und deren Beobachtung zugeführt werden konnten.
Jetzt ging’s ans Schreiben. Thomas schrieb auf Englisch, leider war es Schulenglisch, wir brauchten einen sogenannten native speaker, der das verbesserte. Unter Einhaltung aller Regeln – von denen die damals witzigste war, dass das US-amerikanische Papierformat vom europäischen unterschiedlich ist und wir daher Papier zuschneiden mussten, um die Anforderungen zu erfüllen – aller Beiblätter, der Hinzufügung der Grunddatensätze und der geforderten Erklärungen (Bescheid Ethikkommission, Erklärung zur Befangenheit) – wurde eingereicht. Nach drei Wochen bekamen wir die Ablehnung.
Bei Ablehnungen stellt sich die Frage wie man damit umgeht? Man kann es als Ansporn sehen, oder als so tiefe Kränkung, dass man nie mehr etwas einreicht. Ich sah es als Ansporn, Thomas war zerstört, Marguerite wollte nichts davon wissen. Bob Harmon war der Mitherausgeber, dem unsere Arbeit zur Betreuung übergeben worden war, weil er uns als Einziger der Herausgeber nicht persönlich kannte. Bob war (wie ich später sah, als ich ihn kennenlernte) ein etwas übergewichtiger, mittelaltriger Herr mit erstklassiger wissenschaftlicher Reputation, sehr leicht aufgeregt und streng. Die Begründung der Ablehnung war, dass unser Englisch nicht den Anforderungen des Journals entspräche. Also nochmals zum native speaker, sogar Marguerites Vater, der damals das Journal Chemistry herausgab wurde befasst und machte hilfreiche Vorschläge, die das Papier rot färbten. Dann wieder abtippen, natürlich auf zugeschnittenem Papier, das nur schlecht in die europäischen Schreibmaschinen passte, mit einer „Cover Letter“ in der die Änderungen bezeichnet wurden und wiedereinreichen.
Ablehnung nach drei Wochen, Bob verlangte, dass wir die Klassifikation der Patienten nicht nur nach den Richtlinien der Behinderung der American Pediatric Association durchführen sollten, sondern die Patienten auch nach dem Diagnostic and Statistical Manual der American Psychiatric Association, dem DSM IV. kategorisieren müssten. Das war zwar einfach, aber unnötig, weil das DSM damals keine Subklassifikation frühkindlicher Essstörungen bot. Für uns wäre das lästig, aber leicht gewesen, da es nur zwei Kategorien gab, die anwendbar gewesen wären. Das Paper wäre dadurch weder besser noch aussagekräftiger geworden, es wäre nur unnötige Arbeit gewesen.
Ich schlug daher vor: Wir weisen Bob auf den Widerspruch zwischen den beiden Ablehnungen hin. Einmal will er sprachliche Verbesserungen, dann will er ein bisher in diesem Fall nicht angewandtes US-amerikanisches, psychiatrisches Klassifikationssystem haben. Also machen wir die Änderungen nicht, sondern beharren darauf, dass wir alles gemacht haben was erforderlich war und dass die Ablehnung nicht fair ist. Das schicken wir auch an die Editor-in-chief Joy Osofsky, sowie an den Besitzer des Journals im Auftrag der Michigan Association for Infant Mental Health Hiram Fitzgerald, die wir beide relativ gut kannten.
Es gelang. Bob entschuldigte sich und gab zu, dass die beiden Schreiben in sich widersprüchlich sind. Das Paper wurde zur Publikation akzeptiert und erschien.
Wir hatten uns international wissenschaftlich mit der bisher größten Gruppe sondenabhängiger Kinder, die essen gelernt hatten, positioniert. Den von uns erfundenen Begriff der Sondendependenz, einer unerwünschten Nebenwirkung eines der an sich nötigen Sondenernährung der Früh- und/oder Mangelgeborenen Kinder, hatten wir positioniert. Viele Publikationen mit anderen Kolleg*innen folgten. Mein kleinen Hasardstücke, wie die Verwendung einer an sich für das Gegenteil, nämlich den Tod erfundenen Statistik, meine Erfindung einer virtuellen Vergleichsgruppe und zuletzt die Beharrung auf der Publikation wegen in sich widersprüchlicher Ablehnung – all das war gelungen. Bob starb leider nicht lange danach, in meinem Herzen ist für ihn immer eine Kerze aufgestellt. Er war ein faires Gegenüber.