Komisch, die „Heldengeschichten“, die bei Freunden und Nachbarn passierten, erinnere ich leichter. Das, was ich in den Spitälern gemacht habe, in denen ich 43 Jahre beinahe ununterbrochen war, gehört zu meiner beruflichen Existenz und dort habe ich und die Welt von mir erwartet, dass ich besser bin als manch anderer Kollege. Jedenfalls wird das einem Professor zugesprochen, oder wie Helmut Kasper sagt: „Man sieht jemanden an – das gibt „Ansehen!‘“ Schon der Abwechslung wegen rücke ich doch die eine, oder die andere klinische Geschichte ein. Ich habe sie immer gern bei berühmten Ärzten gelesen, von des Geheimrats Sauerbruchs Geschichte bis zu Arztromanen und -filmen. Und bin ich auch kein berühmter Arzt geworden, so erinnere ich doch manche Heldengeschichte und manches Versagen.
Da stand ich bei der Visite in der Klinik und ein junger Mensch kam herein riesengroß und füllig. Der Körperbau war mittelbetont, er hatte einen „Schwimmreifen“. Neben ihm erschien eine viel kleinere Frau, vermutlich seine Mama.
Man muss wissen: Patienten, die während der Visite zur Aufnahme kommen, sind unerwünscht. „Nehmen Sie bitte Platz,“ ist das Höflichste was sie zu hören bekommen. Oft auch: „Wie kann die Ambulanz sie jetzt heraufschicken?“ bis hin zu: „Wir haben keinen Platz!“ All das hätte Andreas aus Bad Aussee sicher bald gehört, wäre da nicht ein günstiger Moment gewesen, der sein Schicksal in eine neue Richtung lenkte.
Ich drehte mich zur Tür, wissend, dass die zurückweisenden und wenig willkommen heißenden Begrüßungen der Diplomkrankenschwestern gleich auf die Familie niederprasseln würden. Da stand ein Mensch vor mir, den ich aus orientalischen Sagen, aus Ali Baba und die 40 Räuber, aus Haremsgeschichten und aus dem biblischen Buch Ruth und vielleicht noch aus Mozarts Entführung aus dem Serail kannte: Ein Eunuch.
Wie es schon so ist bei mir, ich sagte laut. „Endlich sehe ich einen Eunuchen! Ich habe noch nie einen echten gesehen!“ Marguerite, die neben mir stand, war über meine mangelnde Diskretion entsetzt.
Andreas kam aus psychosozialen Gründen zu uns und hätte nie auf die Kinderklinik gehört. Er hatte Unterwäsche, Lingerie von der Wäscheleine der Nachbarin gestohlen. Unglücklicherweise war deren Mann der Polizeikommandant. So begann eine Reihe von Anzeigen, Nachfragen, psychiatrischen Untersuchungen und jugendamtlichen Interventionen. Nur angeschaut und untersucht hatte Andreas niemand.
Im Mutter-Kind Pass fanden sich keine Auffälligkeiten, Andreas Genital war in allen Untersuchungen in den ersten drei Lebensjahren als unauffällig befundet worden.
Die Mama war Kristallhändlerin an der Traunpromenade in Bad Ischl. Ihr war Andreas Langsamkeit, seine Trägheit und Gutmütigkeit aufgefallen. Sie hatte ihn seit früher Kindheit „mein Bärli“ genannt. Als er in die Pubertät kam, wuchs er schnell, seine Stimme wurde etwas dumpfer – mehr nicht. Da Andreas schon eine tiefe Stimme gehabt hatte, fiel ihr die geringe Änderung nicht auf. Mutter und Sohn waren ein Paar, der Vater war mit der Mutter nie liiert gewesen, eine Familie im klassischen Sinn bestand nie.
Nach Beendigung der Schulpflicht war Andreas zwei Jahre zu Hause gewesen, hatte Computer gespielt, ein bisschen Pornographie. Er war kein Naturbursch, nur einmal am Gipfel des Losers gewesen. Er war scheu, Freunde hatte er keine und der Kontakt zu den Schulkollegen des Polytechnischen Lehrgangs war erloschen. Die Mama behandelte seine Trägheit, die sie auf die exzessive Verwendung des PCs zurückführte mit Rosenquarz, der die schädliche elektronische Strahlung absorbieren sollte.
Die Ärzt*innen vor meiner „Entdeckung“ hatten teils dämpfende, teils stimulierende Psychopharmaka gegeben, Untersuchungen von Geschlechtshormonen, oder körperliche Untersuchungen waren keine erfolgt.
In meiner Untersuchung zeigte sich eine geringe Schambehaarung, keine sonstige körperliche Behaarung, die Hoden auf dem Stand der beginnenden Pubertät. Penis klein, weibliche Fettverteilung. Die Endokrinologen gaben mir Recht.
Für die Gabe männlicher Hormone gab es aus medizinisch-organischer Sicht keine Indikation: diese bestünde nur, um das Längenwachstum zu bremsen, vielleicht eine eindeutigere Geschlechtsidentität herzustellen. Für Beides war es zu spät. Allerdings konnte es so auch nicht weitergehen: weder, dass Andreas nur zu Hause sitzt und in den Computer schaut, noch keiner Beschäftigung nachgeht, noch seinen kleinen Sexualtrieb auf die Unterwäsche der Frau Polizeidirektor zu fokussieren.
Was tun?
Die richtige Diagnose war ein guter Anfang. Immerhin. Sie war eine „first glance diagnose“ gewesen, wie das im Amerikanischen heißt, eine Diagnose auf den ersten Blick im Sinne Edward Soles. Unvoreingenommenes Anschauen, sich nichts denken und alles merken.
Jetzt aber helfen. Das Wichtigste ist – es muss mehrere Probleme erfassen:
Alles das leiteten wir ein. Gegen den Rat der Endokrinologen empfahlen wir die Gabe männlicher Hormone, was bei Andreas zu einem gewissen Bartwachstum und einer deutlichen Verbesserung der Fettverteilung führte. Der Antrieb wurde besser, sein Lebensgefühl – alles Nebenwirkungen der Testosterongabe.