Ringel und ich waren in Vorarlberg. Es muss 1982 oder 83 gewesen sein. Ringel befahl: „Wir fahren nach Vaduz.“ Dort trafen wir im Real, dem besten Restaurant Europas Prof. W: Pöldinger und den Fürsten Ottokar von Sayn-Wittgenstein. Nach dem Vorbild Hans Prinzhorns sollte eine Tagung: „Kunst und Psychiatrie“ in Wien ausgerichtet werden. Ringel hatte das übernommen, was hieß: „Scheerli, Sie machen das!“
Man saß zu Tisch. Frau Real kam mit einem eigens für sie angefertigten Seidenkleid, das ihre imposante Büste betonte und die Schwächen ihres Alters deckte: „Herr Professor, für Sie habe ich noch eine Kalbsniere. Die braten wir im eigenen Fett im Backrohr.“ Ringel war begeistert, er bestellte das und ein Mineralwasser. Er saß im Rollstuhl, voller Lebensfreude, Alkohol trank er grundsätzlich nicht, trotzdem erschien älter als er war. Im Krieg trank er Alkohol, weil ihm sonst der Chef des Lazaretts (eigentlich der Rudolfsstiftung) verboten hätte bei den Laienaufführungen von Mozartopern mitzumachen. Vorher und nachher nie. Er war schon lange Professor, er inszenierte sich als DER Professor, so als ob es ihn vorher nicht gegeben hätte und führte ein aufwändiges Leben. Zuerst Rennplaz und Frauen, dann Schloss Laudon als Dauergast ohne Wohnung, nun mit seiner Frau eine BUWOG Wohnung mit Schwimmbad im 19. Wie ich das heute, 2020, schreibe, bin ich fast 10 Jahre älter, als er damals war, trage im Gegensatz zu seiner schweren Hornbrille eine randlose, bewege mich viel, gehe auf Berge, fühle mich fast jung und inszeniere mich nach der Mode als forever young. Seine Mode war aus den Kriegs- und Nachkriegsfilmen, er war wie Paul Hörbiger als Direktor der wiener Sängerknaben in „Der schönste Tag meines Lebens“.
Der neben Ringel sitzende Walter Pöldinger war ein Held der Medizin: Aus Hagenbrunn in Niederösterreich stammend, waren anfangs seine Interessen die gleichen wie die Ringels. So trennten sich die Freunde, um Freund bleiben zu können. Pöldinger ging nach Basel und erfand mit Hilfe von Kielholz und dem Pharmariesen Hoffmann la Roche die erste wirksame antidepressive Therapie mittels tricyclischen Medikamenten. Ein Heros, dick, viel Alkohol und Essen, schwerfällig und -blütig. Geistig ein frischer und geselliger Mensch, entwarf sich so wie auch Ringel und vor allem neben ihm als Bub, als Urwiener. Als Dritter im Bunde saß der kunstsinnige Ottokar Fürst Sayn-Wittgenstein, alter österreichischer Adel am Tisch. Durchlaucht hatte viele eindeutige Vorstellungen. Mich behandelte er wie einen Lakeien – wie sonst? Ringel, der mich kannte, war vorsichtig. Seine Wünsche wurden mit süßen Geschmäckern umhüllt: „Scheerli, wollen Sie auch Palatschinken?“ und an Frau Real gewandt: „Können wir noch welche haben, oder ist die Küche schon geschlossen?“ „Aber, aber Herr Professor, Sie wissen doch für Sie ist die Küche nie geschlossen – ich kann auch Palatschinken machen.“
Durchlaucht verhielt sich anders, standesgemäß: „Sie müssen diese und jene Künstler einladen. Beim Hängen (der Bilder) werde ich anwesend sein. An welche Räume haben Sie gedacht?“ Da rührte sich der kleine Jud und sagte: „Durchlaucht, bitte wahrzunehmen, dass ich von meinem Glück diesen Kongress zu veranstalten soeben erfahren habe. Ich werde mich umgehend damit beschäftigen.“ Ich war in der Herr-Knecht Aporie geschult, nicht nur von B. Brecht und Puntilas Knecht Matti, sondern vor allem durch meine politischen Tätigkeiten seit meinem 9. Lebensjahr.
Der Fürst war indigniert: „Erwin, hast Du Deinen Mitarbeiter nicht vorbereitet?“ „Nein, ich wollte ihn überraschen.“ So saß ich dort, so weit ist heute die Erinnerung verklungen, dass ich nicht mehr weiß, was ich gegessen habe. Ich erinnere noch die begütigenden, wässrigen Augen Pöldingers, der ein Hauptreferat zugeteilt bekam (während dessen er Monate später fast einschlief); an die Stimmung in den hellen, weißen Räumen in Vaduz mit vielen Gockelhähnen, die als Bilder und Skulpturen herumstanden. Sie waren das Symbol des Restaurants Real, das ichspäter noch oft aufsuchte. Leider gibt’s es das nicht mehr: bescheidene, aber selbstbewusste Wirtsleute, die die Fürstenfamilie bekochten – im Haus gab‘s einen Lift, der direkt in die fürstlich-lichtensteinsche Küche führte. Alles, was serviert wurde war von ausgezeichneter Qualität, preiswert nicht billig, so wie die Zimmer, die man nach einem Abendessen dringend benötigte, ebenso angemessen. Leider haben die Kinder im Sonnenhof diese Tradition nicht weitergeführt, sondern wurden was Besseres, man muss Tage, besser Wochen vorher bestellen, Restaurantgäste werden darauf hingewiesen was sie alles im Hotel nicht benutzen dürfen. Ich hab’s nie dorthin geschafft.
Durchlaucht beliebten mich hie und da anzurufen. Schnelle Fragen, dringende Anliegen, wie: „Künstler X muss eingeladen werden, ich hab’s gestern zugesagt!“ Ich wurde zum Braven Soldaten Schwejk, der „mit der Wahrheit lügt“: „Haben Euer Gnaden genügend Platz für die Werke des Künstlers X?“ „Das ist doch Ihre Aufgabe!“ Empörung – Ringel wurde angerufen. Ich war derselbe. „Scheerli, machen’s es doch dem Grafen nicht so schwer.“ „Wie denn, Herr Professor?“ Er will dauernd Neues, bietet keine Hilfe an, alles sind Befehle.
Heute, 2020, denke ich, dass ich mir selbst viel verstellt habe. Ich hätte subalterner sein sollen, mich hineinschwemmen lassen in den österreichischen Hochadel, in die Kreise derer von Sayn-Wittgenstein, deren von Hoyos (diese Begegnung ist eine andere Geschichte und beschreibt ärztliche Handlungen, vielleicht beschreibe ich sie trotzdem einmal) . Ich hätte rücksichtsvoll seien sollen und respektieren, dass ein Sayn-Wittgenstein für eine vergangene Zeit ausgebildet worden war, für eine Zeit in der ihm das Herrschen anerzogen wurde, in der er Herrscher war. Unmittelbar konnten er auf seinen Gütern und Lehen Recht sprechen, über Tod und Leben entscheiden, die Sayns führten Österreichs Kriege.
Nun war ein Fürst Psychoanalytiker geworden, ein Ottokar zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg und H. Prinzhorn Schüler machte in dessen Vermächtnis einen Kongress und traf auf einen obstinaten, studentenbewegten Juden. Klassische Kombination, die funktioniert hatte, als sowohl der Jude, als auch der Graf ihren Platz in der Welt hatten. Inzwischen war aber die Monarchie gestürzt, der Kaiser im Exil verstorben und in dem Vakuum hatte ein Oberösterreicher namens Schicklgruber die Ausrottung der Juden angeordnet und fast geschafft. Der gesellschaftliche Kontrakt zwischen Jude und Graf war gestört, es gab keine Gnadenakte mehr, der Jud bekam nichts vom Grafen, der Graf konnte dem Juden nicht mehr befehlen. So weit war es gekommen, dass Ottokar an meinen Anreden Anstoß nahm, die er als Verspottung empfand. Er war Psychoanalytiker geworden und hatte den Juden Jesus mit dem Juden Freud ersetzt. Deren Glaube an das Gute im Menschen als „jüdischer Krankheit“ konnte er nicht verstehen. Seine Vorfahren hatten unsereinen als kriegswichtiges Kanonenfutter, bestenfalls als Finanziers gesehen, der Ausreißer Ludwig, eines Philosophen der als Volksschullehrer die abendländische Philosophie neu erfand, erhöhte die Ehre des Hauses.
Eines blieb unklar: woher nahm ich, der Parvenü seine Frechheit her? Der Kongress wurde ein großer Erfolg, lange Jahre habe ich den Kongressband aufbewahrt. Nun ist er verschollen. Was bleibt ist die Erinnerung an das Real und den Kontakt mit Ottokar, den ich nicht für mich nutzen konnte.