Das Medium des Blogs selbst, ändert nicht nur die Länge der Beiträge, sondern auch ihre Aktualität. Biographie ist immer rückwärtsgewandt – daher zur Abwechslung mal eine aktuelle Situation. Ich will/soll auf die Sophienalpe gehen. Es ist aber Samstag und ich bin krank – eine asthmoide Bronchitis, wie jeden Winter. Ich habe alles brav eingenommen: Serevent gegen die asthmoide Bronchitis, Nasenspray und in der letzten Nacht eine Mischung aus Entzündungshemmern und Antihistaminika. Der Weg auf die Alpe – Stadtwanderweg 8 – beginnt hinter meinem Häuschen in Wien, nur ein Gartentor mit einem Netzgitter in einem alten Stahlrahmen, trennt die Gartenanlage Edenbad vom Wienerwald. Er ist fast 10 Kilometer lang und ich steige immer 350 Meter hinauf und hinunter. Jetzt bin ich zwar angezogen, aber die Sonne ist wieder weg und ich habe keine wirkliche Lust.
Was ist das mit der Bewegungsmode? Als ich kürzlich in ein Taxi steige, sagt der Fahrer, dass ich jung aussehe. Es stellt sich heraus, dass sein Vater zirka zehn Jahre jünger ist als ich und mit dem Stock geht. Der Fahrer erzählt mir, dass in seiner türkischen Heimat die Männer spätestens mit 60 Jahren sterben. Er hat zwei kleine Kinder, fünf und sieben Jahre alt, wenn er sie noch verheiraten kann, dann reicht das für ihn. Ja, sagt er – in Österreich bewegen sich die Menschen und essen gut, das macht sie jünger und sie werden älter.
Anderen Tags setzt sich In der U-Bahn ein Mann zu mir. Er hat vorher auf seinem Sitz zwei Reihen weiter hinten fast eingeschlafen. Er hat ein altes Wollsakko an und eine wollene Weste, schütteres, weißes Haar – oben und unten jeweils drei Zähne. Allerdings nicht gegenüber, sondern in der oberen Zahnreihe drei Zähne auf der linken Seite, in der Unteren genau gegenüber. Er spricht und greift mich an und ich weiß nicht, wie ich reagieren soll: an sich würde ich zurückweichen, aber dann sagt er, dass ich so ein gutes Gesicht habe und so freundlich schaue. Er will mich weder bestehlen, noch ist seine Annäherung homosexuell – er ist ein 33er Jahrgang und vielleicht nicht gern allein. Ich sitze dort am Weg zum Treffen mit meinem Freund Peter, den ich im Restaurant Meissl & Schaden treffe. Das Restaurant serviert ein erstaunlich billiges Mittagsmenü, das leider nicht essbar ist. Als wir aber das Essen zurückschicken, bekommen wir die Spezialität des Hauses: wiener Schnitzel ohne Aufpreis. Ich werde danach in die Synagoge gehen und meinem Sohn Noah zuhören, der den Wochenabschnitt der Thora, Toldot, interpretieren wird. Ich trage einen halbfertig erzeugten Maßanzug in dunkelblau mit einem eingewebten Streifen, eine Missoni Krawatte, Manschettenknöpfe – nur auf meine Ordenskokarde habe ich verzichtet, weil Peter dann sicher eine schlimme Bemerkung machen würde. Stattdessen habe ich eines meiner Lieblingsstecktücher aus merzerisierter Seide in die Brusttasche gesteckt, das ich auf der Rialtobrücke in Venedig gekauft habe. Der fremde Mann in der U-Bahn und ich könnten nicht schlechter zueinander passen und doch – das Gespräch ist nett. Er war Molkereiarbeiter zuerst in Wien-Landstraße und dann bei der WIMO am Ende der Ausstellungstraße in der Leopoldstadt. Heute geht der Fremde mit einem Freund essen, genau wie ich. Er greift mich immer wieder an – ich weiß noch immer nicht, was ich da machen soll? Vielleicht ist er homosexuell, als Junger wirkte ich nicht auf Menschen mit dieser sexuellen Orientierung, aber vielleicht jetzt als Alter?
Komischerweise komme ich auch mit dem Zahnluckerten auf mein Bewegungsthema. Er kommt gerade aus Mauerbach und sagt: „Das ist der Ort mit dem Kloster!“ „Das Kloster ist aufgelassen und jetzt ein Museum“, antworte ich. Er war nie drinnen, er kennt es nur von außen und hört mir interessiert und erstaunt zu. „Man muss den Bus nehmen“, sagt er. Darauf ich: „Man könnte auch gehen!“ Da lacht er: „Von Mauerbach?“ Ich nicht faul, gib an: „Ich war heute schon auf der Sophienalpe – 10 Kilometer, 450 Höhenmeter.“ Er ist davon nicht beeindruckt. Mehr von meinem Gesicht, das er lobt.
Überall sind wir von Engeln umgeben. Sie sind einfach überall und da sie kein Essen und auch sonst nichts brauchen, haben sie Zeit uns den Weg zu weisen. Der eine Engel weist mir den Weg zur Jugend, der andere freut sich an meinem guten Gesicht – beide finden meinen Bewegungsdrang nicht so wichtig. Besser ist es schon sich zu bewegen, aber nicht wegen der Bewegung, sondern wegen ihren Folgen: innere Jugendlichkeit und ein warmes, weiches Gesicht.
Heute ist Sonntag. Ich gehe jetzt den Vogerln zuhören und die wenige, schwache Sonne genießen, die immer wieder durch die Wolken durchscheint. Sonntags ist schwer gehen. So viele Menschen im Wald, der am Wochentag mir fast allein gehört. Freudig habe ich noch meinen Tee ausgetrunken, dankbar bin ich, dass mich Doris abholt und mein Kopfweh wird auch immer besser. Vielleicht gehe ich auch in ein warmes Bad und lege mich noch einmal hin. Mein Arzt Noah empfiehlt das heftig.
Sonntagsfreuden ohne Bewegungsstress – das wär doch mal was.