Der Seetag wird von mir diesmal ausgelassen. Er diente der Erholung nach der langen Reise. Leider war kein Schlafen nach sechs Uhr morgens mehr möglich, also ging ich auf Deck 11 meine Runden – 4.400 Schritte. Warum auch nicht? Ich glaubte, dass „Schutzengel“ von Paul Coehlo in der Atacama Wüste spielt, aber es ist die Mojave Wüste. Deshalb wollte ich in die Atacamawüste sehen. Wir bestellten wegen dieses Irrtums den Ausflug: off the beaten track – in das Dorf Copda bei MyCosta, dem ausgelagerten, internen Reisebüro. Da vier große Busse gleichzeitig in ein Dorf mit 120 Einwohner*innen kamen, gab’s dort mehr Touristen, als Einheimische. Nicht was ich mir von einem: off the beaten track erwartet hatte. Die Busfahrt allerdings war spektakulär und jeden Groschen Wert.
Fast unmittelbar nach dem Hafen und anschließenden Altstadt kommt man in die Atacama Wüste. Eines der trockensten Gebiete der Erde. Dieses Jahr hat es bisher zweimal geregnet eine Sensation. Komischerweise betreiben die Menschen vor allem Landwirtschaft, wenn sie etwas machen, obwohl Wasser wenig vorhanden ist und in die landwirtschaftliche Siedlung zirka 30 Kilometer außerhalb Aricas mit LKWs gebracht werden muss. Die Tante unerer Führerin Loreanna wohnt dort. Sie arbeitet sehr viel, sagt Loreanna. Verwöhnt vom Anblich israelischer Kibbuzim sehe ich nur Kahlheit und vertrocknete Felder. Aber vielleicht ist das, weil es Hochsommer ist und Schulferien. Die Erzählung Loreannas weisen darauf hin, dass die Menschen freies Wohnen und alle Versorgungen mit Strom, Wasser bekommen, aber kontrolliert werden, ob sie arbeiten. Das ist natürlich anders als bei den Kibbuzimmitgliedern. Die arbeiten aus innerer Motivation (jedenfalls in meiner Vorstellung), wohingegen diese Menschen arbeiten müssen, weil sie sonst ihr Dach überm Kopf verlieren. Die Wüste von der die Peruaner behaupten, dass sie ihnen gehört (nach einem verlorenen Krieg wurde sie im 19. Jahrhundert von Chile annektiert) besitzt Kupfer- und Lithiumvorkommen. Das Lithium muss mit sehr viel Wasser gewonnen werden, weswegen das Wasser langsam zu wenig zu werden droht. Das nur zu den Elektroautos und anderen Versuchen mittels Batterien die Welt sauberer zu machen.
Die Wüste ist klar und in dunklen Tönen gehalten. Je weiter wir hinauffahren desto frischer wird die Luft. Die Sonne ist heiß, der Wind angenehm kühl. Bei fünf den Weltvorstellung der indigenen Völker angepassten Monumenten machen wir einen Fotostop. Das ist schlimm. 150 PAX strömen aus dem Bus und machen ein Foto. Der Deutsche neben mir, sonst ein gemütlicher Biertrinker mit entsprechendem Gössermuskel, der in seinem Fall eher vom Weizenbier stammt, schimpft unflätig, weil sich immer wieder eine Touristin zwischen die Beine des idealisierten Manns stellt und er sein Foto nicht machen kann. Ich mache ein Foto, bei dem vom Mann nur der Kopf zu sehen ist, allerdings vor der künstlerisch verfremdeten Sternenkarte der Indios. Ich fühle mich schlecht und als Herde behandelt. Marguerite macht ein Foto von mir. Am Wegesrand sind stachelige Büsche, Wüstenbewohner, die sich an diese Bedingungen angepasst haben. Respekt und Unverständnis bringe ich ihnen entgegen. Der Bus klettert auf 2400 Meter über dem Meeresspiegel, von dem wir weggefahren sind. Die Straßen sind so schmal, dass kaum zwei >Busse aneinander vorbei kommen können. Gewunden und steil, Leitplanken sind angebracht, fehlen aber manchmal und ich sehe in den Abgrund.
Das Dorf Copda ist auf unseren Besuch gut vorbereitet. Ein Schamane macht für uns eine Willkommens- und Reinigungszeremonie. Er wünscht uns alles Gute für die Weiterreise und bedankt sich für unseren Besuch. Loreanna, unsere Reiseführerin, ist die Volksschullehrerin von Copda. Sie kommt mit 10 Schulkindern jede Woche von Montag bis Freitag ins Dorf und sie wohnen im Schülerheim, einer Holzbaracke. Ohne die Schüler*innen aus Arica müsste die Schule geschlossen werden, oder die zehn Kinder aus Copda jede Woche in Arica verbringen. Da die Regierung an der Erhaltung Copdas gelegen ist, fahren aricanische Kinder nach Copda. In den Ferien verdient sich Loreanna Geld durch das Fremdenführen. Loreanna findet alles teuer, was uns verständlich wird, als wir in der Stadt um 1000 Pesos eine Empananda kaufen könnten, wenn wir chilenisches Geld hätten. 1 US$ ist 800 Pesos Wert, das heißt eine Empanada kostet 12,5 Cent, oder 0,10 €. Wir hatten nach der Zeremonie ein inkludiertes Essen und freie Zeit, um zu schlendern. Wir verzichten auf beides und gingen in das Restaurant am Hauptplatz. Von der Terrasse sahen wir sogar die etwas peinliche Folkloretanzaufführung. Zwei dicke New York Strip Steaks, war das Einzige was es gab. Südamerikanische Schnittführung, langfaserig, frisch nicht knusprig gebraten, etwas grau. Dazu gab’s ein Glas des lokalen, sehr süßen Weins. Ein Dorfbewohner, der am Nebentisch Bier trank, bot uns seinen Tisch an. Wir hätten von dort bessere Sicht auf den überdachten Hauptplatz, meinte er – sehr nett. Wir dankten, wir sahen genug.
Auf der Rückfahrt Siesta. Wie gut. Denn in Arica war Karnevalsfieber angesagt. Als wir zwar verschwitzt und staubig um 17 Uhr am Schiff ankommen, nehmen wir sofort den Hafenshuttle ohne uns zu duschen und umzukleiden und fahren zum Hafentor, das zugleich der Eingang in die Stadt ist. Musikgruppen, die Paucken und Trommeln, Tubas, Tschinellen und Flöten, manche sogar Geigen mitführen, ziehen an uns vorbei. Herrrliche Kostüme, jede Gruppe ist ein Verein mit eigenem Namen, Uniform und einem Anführer, der auf mit dem Pfiff seiner Pfeife Bewegungswechsel und Richtung angibt. Tanzgruppen aus jedem Stadtteil Aricas und von weit weg, aus Santiago de Chile, aus Bolivien und anderen südamerikanischen Staaten. Lokale Bräuche, urtümliche Anbetungen von Indiogotteheiten werden gezeigt, manchmal wie Perchten aussehend. Alles wurde synkretisch inkulturiert, um es einmal g‘schraubt auszudrücken. Die Gruppen nach ihren Kirchen benannt, aber indigende Kostüme. Zuerst die Musik, dann die Tanzgruppe und in deren Mitte fünf bis sechs schöne Frauen mit langen Federn auf flachen Hüten und Highheels an den Füßen; Kinder in denselben Kostümen wie die Erwachsenen eröffnen manche Tanzgruppe. Männergruppen zeigen schnelle, kriegerische Tänze gemäß dem Kommando des Anführers. Es ist bunt, wir sitzen auf den Stufen der von P. Eiffel gebauten Stahlkathedrale, die jedem Erdbeben getrotzt hat, im Gegensatz zur Kirche in Copda, die zerrissen ist und an vielen Stellen gestützt wurde. Die Tänzer*innen haben Gesichter, die von der Arbeit und der Sonne gezeichnet sind. Es sind ebenso hellhäutige, wie japanisch aussehende Menschen und alle rassischen Mischungen. Rhythmus und Musik vereinen, die Tänzer*innen schwitzen, die Musik ist unmittelbar, live und laut. Zweimal wird der Umzug wegen einer Hochzeit unterbrochen, die Hochzeitsgäste und das Brautpaar verlassen die Kirche – das Brautpaar wird mit einem Mercedes Oldtimercabrio aus der Zwischenkriegszeit von einem Herrn mit Tellerkappe und Anzug mit Fliege abgeholt. Beide Brautpaare nicht jung, die Kleidung der Gäste zeigt Wohlhabenheit: die Herrn in dreiteiligen Anzügen, die Damen tragen lange Kleider. Wir sehen die Elite von Arica. Dann kommen wieder die Tanz- und Musikgruppen, zuletzt ein „schwarzer“ Block Jugendlicher, die jede*r ein handgemaltes Bild zweier verdeckter Augen in der Hand hochhalten und das Papier ist ein aufgeschnittener Fruchtsaftkarton. Vielleicht richtet sich der Protest gegen die United Fruit Company, wir verstehen ihre Forderungen, die sie rufen, nicht.
Liberal uns aufgeschlossen geht’s zu, alles darf nebeneinander existieren. Junge, alte, Frauen und Männer, Tanzende und Zuseher – es scheint, als ob es wenig Einschränkungen gäbe. Die Polizei steht am Rande und schaut zu.
<< Galapagos, Tag 4 - Resümee, Monat 1 >>