Nachtdienste haben im Grunde die Aufgabe Schwerkranke von solchen zu unterscheiden, die aus einem anderen Grund kommen. Das ist schwer, weil die Schwerkranken keinen Wimpel haben, den sie in die Höhe halten, um als solche erkannt zu werden. Der zwölfjährige Alfons war schon mehrmals wegen Alpträumen nachts in die Klinikambulanz gekommen. Er wurde jedes Mal heimgeschickt. „Wegen Alpträumen!“, sagte man mit einem Lächeln, aber schnaubend. Wegen so einer Kleinigkeit darf man nicht in der Nacht kommen und den Arzt wecken!
Manchmal hatte ich Glück. „Aber Glück hat auf die Dauer doch zumeist wohl nur der Tüchtige“ schrieb Helmuth Graf von Moltkes (1800-1891) in seinen »Abhandlung über Strategie«.
Das will ich so nicht arrogieren, aber ich war fleißig und ernsthaft, wenn ich Nachtdienst hatte. Ich fand es Recht und Pflicht des Nachtdiensts gerne, wach und mit all seinem Wissen zu dienen. Als junger Arzt wurde ich oft nicht beschützt: mal war der Oberarzt nicht anzutreffen, oder er wollte nicht helfen, oder hatte besseres zu tun. Absichtlich ist diese Zeile nicht gegendert, weil ich nur eine einzige Oberärztin in meiner Turnusausbildung kennenlernte und die war furchtbar. Man lernt von Vorbildern – auch wie man es nicht machen will, wenn man einmal selbst Lehrender ist.
Alfons kam lange nach Mitternacht, in meinem Dienst zum 3. Mal in die Notfallambulanz. Ein wenig aus Ärger, aber auch aus Unsicherheit, weil er dachte, dass es sich um ein psychisches Problem handelte, bat mich der Ausbildungsassistent in die Ambulanz. Er dachte ich würde ein vertieftes Anamnesegespräch führen, stattdessen untersuchte ich Alfons intensiv neurologisch. Das ist unüblich geworden, seit man mittels MRT und CT „ins Hirn hineinschauen“ kann. Die Untersuchung inkludiert neben den Muskeleigenreflexen, Geh- und Stehmanöver, den Einbeinstand, das Mantelanziehen und andere Bewegungen, die Hinweise auf neurologische Erkrankungen geben können. Die Kenntnis der neurologischen Untersuchung und deren Interpretation steht einem psychosomatisch tätigen Arzt gut an, da dem Psychosomatiker oft Menschen vorgestellt werden, die anscheinend psychische Probleme haben, aber eine neurologische Krankheit haben. Fehldiagnosen können dem Patienten schaden. Deshalb habe ich Kolleg*innen, die „Psychosomatik“ lernen wollten, aber kein Interesse für somatische Medizin hatten, wenn möglich nicht ausgebildet. Es ist so wie im Spruch: „Ärzte ohne Anatomie sind wie Maulwürfe. Sie wühlen im Dunkeln, ihrer Hände Tagwerk sind Erdhügel.“
Das gilt für alle Teilbereiche der Medizin. Ich liebte das Studium der Anatomie, las in meiner Zeit als Kliniker täglich wissenschaftliche Papers, einmal im Jahr die Neuerscheinung eines deutschsprachigen Pädiatrielehrbuchs (neben der gesamten Bibel), um am Laufenden zu bleiben.
Bei Alfons hielt ich mich an einen Satz unseres Vorstands Prof. Dr. W. Müller: „Da man die Patienten nicht wegbeamen kann, kann man sie auch gleich gut versorgen und höflich sein!“ Ich war höflich und machte meine Arbeit. Trotzdem ich keine Auffälligkeiten fand, nahm ich Alfons zu einer MRT Untersuchung des Schädels auf. An den Alpträumen müsste etwas Besonderes dran sein, dachte ich.
Meine Stammleser wissen: am nächsten Tag gab’s in der ärztlichen Mittagsbesprechung Gelächter. O-Ton: „Ein junger Mann wurde wegen Alpträumen zum MRT Schädel aufgenommen“, hieß es. Unser Klinikvorstand Willi Müller war damals nicht mehr mein Feind. Er schaute mich interessiert an und frage: „Warum?“ Ich erklärte, dass die Träume jedes Mal im Zusammenhang mit einem Infekt der oberen Luftwege gestanden habe (Angina tonsillaris) und dass mir der Patient und seine Familie mir nicht als wehleidig erschienen. Sie waren Menschen mit beiden Beinen am Boden, keine die wegen Nichtigkeiten eine Notfallsambulanz aufsuchen würden. Damit beließen wir’s fürs erste.
Liebe Leser*innen: Sie vermuten‘s sicher schon. Es war etwas Besonderes. Es wurde publiziert, natürlich ohne Nennung meines Namens. Das ist vielleicht das Schönste an dieser Biographie: dass sich die Sprüche der Väter bewahrheiten: Das Eigentliche passiert im Verborgenen.
Alfons war ohne innere Halsschlagadern geboren. Die Blutversorgung seines Gehirns erfolgte nur über seine beiden Wirbelarterien. Diese Fehlbildung führte zu den Alpträumen: durch die Entzündung der Rachenmandeln überstreckte er im Schlaf den Kopf unwillkürlich, wodurch der Blutfluss der Wirbelarterien eingeschränkt wurde. Kam er in die Phase des Träumens, also der erhöhten Hirnaktivität im Schlaf (dem sogenannten REM Schlaf), so benötigte das Gehirn mehr Sauerstoff, bekam ihn aber nicht. Es reagierte wie jedes Organ: es beschwerte sich – das waren die Alpträume.
Alfons wurde vom Leiter der Infektionsabteilung aufgeklärt: Er sei einer von zehn Kindern auf der Welt, die trotz dieses Mangels fast erwachsen geworden wäre. Es gäbe keine Behandlung, die Herstellung einer neuen Adernverbindung (Anastomose) hätte bisher noch nie funktioniert. Der stationsführende Arzt war von Alfons „Flucht“ überrascht. Er zweifelte kurz an sich, vor allem schaute er hektisch nach, ob er genug Material für die Publikation hätte. Es ist schon richtig: Patienten sollen wahrhaftig aufgeklärt werden. Das „gütige Verschweigen“, das ich als junger Arzt vor allem bei Klassepatienten erlebt hatte, war nicht meins. Vielleicht hätte man dennoch Alfons Hoffnung machen müssen – auch nicht meins, wenn’s keine gibt. Vielleicht hätte es nicht der Infektiologe machen sollen, wenn er es nicht besser konnte. Werfe der den ersten Stein, der’s besser kann.
Komische Geschichte. Was war gut daran? Ich hatte meine Arbeit korrekt gemacht, obwohl ich nie ans Fehlen der Arterien gedacht hatte, diese leider nicht zu tasten versucht (was ich damit entschuldige, dass diese Störung extrem selten ist). Ich hatte ein bildgebendes Verfahren angeordnet, das die Diagnose erbrachte. Was schlecht war: ich hatte Spott bekommen und kein Lob. Ich bin unsicher, ob das wirklich schlecht war. Es hat meine Begeisterung für die Medizin und mein Verhalten gegenüber Patienten nicht verschlechtert. Vielleicht bin ich deswegen früh in Pension gegangen – ich glaub’s nicht? Vielleicht würde ich Manches anders machen, hätte ich noch eine Chance. Die wird aber leider nicht kommen.
In Innsbruck haben die Kinder- und Jugendärzte seinerzeit so gestritten, dass ihnen ein berühmter deutscher Kinder- und Jugendarzt Gerhard Gaedicke vorgesetzt werden musste. Er war höflich und ihm gelang das fast Unmögliche. Er führte die Kinderkliniken, die sich völlig zerstritten hatten, wieder zusammen. Das wird mir nicht passieren, fürchte ich. Alles Schnee von gestern.
Vorbei ist vorbei.