An einem regnerischen, kalten Herbsttag sitze ich mit meinem jüngsten Sohn Noah im Grünspan neben dem Ottakringer Friedhof. Er kommt gerade aus dem Dienst in der Notaufnahme des Spitals Ottakring in dem ich zwischen 1977 und 1980 arbeitete, als es noch Wilhelminenspital nach der Erzherzogin hieß. 2020 brachen republikanische Zeiten in der Stadt Wien aus und die Spitäler wurden nach dem Bezirk in dem sie liegen benannt und nicht mehr nach den Stifter*innen. Er erzählt von seinen Patient*innen des Tages, ist erschöpft und hat heute viel Neues erlebt. Ich setze meine Diagnoseprozesse und Behandlungsmethoden aus den achtziger Jahren seinen Erfahrungen gegenüber. Meine Erinnerungen hören sich wie aus der Steinzeit der Medizin an, obwohl wir damals das Gefühl hatten schon sehr viel zu können.
Eine Patientin kam wegen eines Missgeschicks in die Notaufnahme. Noah, der Student im klinisch-praktischen Jahr macht die Anamnese. Die alte Frau hat mehrere unterschiedliche blutdrucksenkenden Mittel eingenommen. Sie hatte sich nicht wohlgefühlt, vielleicht wusste sie nicht, dass sich die Medikamente gegenseitig verstärken. Als sie auf der Bahre in die Notaufnahme gebracht wird, ist sie bewusstlos. Die Rettungsmannschaft berichtet, dass sie im Altersheim ansprechbar war und dass man ihr, wegen des äußerst niedrigen Blutdrucks vier Ampullen Adrenalin gespritzt hat. Leider ohne Erfolg. Das Herz schlägt mit 35 Schlägen/Minute in Kammerfrequenz, das verabreichte Medikament hat zwar den Vorhofknoten beeinflusst, aber dieser flimmert nun. Es gibt fast keinen Kreislauf mehr. Noah berichtet von der Gabe der Antidots gegen die Blutdrucksenker, dem Herzultraschall und schließlich der Verbesserung der Patientin. Meine Fragen lauten: „Hast Du sie abgehört?“ „Hast Du das Herz perkutiert um dessen Ausmaße zu bestimmen?“ „Hast Du die Leber getastet, um eine Rechtsherzschwäche auszuschließen?“ Noah verneint: Noah hört selten ab, kennt die Herzgeräusche, die die verschiedenen Klappen erzeugen können nicht und hat noch nie perkutiert. Seufzend erzähle ich, dass die Erfindung des Klopfschalls in der Medizin durch J.L. v. Auenbrugger zu der Person gemacht hat, die das Emblem der Grazer Medizinischen Universität schmückt. Der müde Junge hört sich das so an wie ich vor 55 Jahren die Geschichten aus Stalingrad. Heldenepen aus einer anderen Zeit. Ich hätte auch von Speeren, Lanzen und Beidhandschwertern reden können. Es wäre Noah gleich weit weg gewesen.
Ein gar nicht so alter Mann wurde eingeliefert. Er erlitt einen ersten epileptischen Anfall. Im Blutbild zeigte sich eine Steigerung der Leukozyten. Im Computertomogramm des Schädels fanden sich keine Auffälligkeiten. Der Neurologe diagnostizierte einen ersten epileptischen Krampfanfall (no na) für den er keine Ursache fand. Er verordnete antiepileptische Medikation und sprach ein Lenkverbot für sechs Monate aus. Wir diskutieren, ob man den Mann hätte lumbalpunktieren sollen, ja müssen. Es wurde nämlich keine Ursache für die vielen weißen Blutkörperchen, die Entzündungszeichen darstellen können, gefunden. Ich hätte punktiert. Zu meiner Zeit hätten wir vorher den Augenhintergrund beurteilen müssen um eine Hirndruckerhöhung auszuschließen. Wir sahen manchmal etwas, manchmal hatten wir das Glück, dass wir einen Augenarzt hinzuziehen konnten, der das konnte. Was auch immer es gewesen sein mochte, der Mann wird sich nicht an das Lenkverbot halten.
Die hohe Anzahl an Leukozyten erinnert Noah an einen anderen Mann, der wegen Harnverhalten aufgenommen worden war. Anfangs wollte Noah einen Harn zur Untersuchung gewinnen, indem er den Patienten aufforderte in ein Glas zu urinieren. Das war unmöglich. So kommen wir darauf zu sprechen ob man sofort einen Harnkatheter setzen soll. Was damals die Ausnahme war, ist heute die Routine. Vorher wird die Harnblase geschallt – wir reden über Ultraschall als das Stethoskop der inneren Medizin des 21. Jahrhunderts. Ich verschone Noah mit meinen Erinnerungen an unseren ersten Ultraschallapparat an der Frauenklinik dieses Spitals. Der Einzige, der das Gerät bedienen konnte, war mein Freund Dr. Mazanek, der der Geburtshelfer bei meinen beiden Töchtern wurde. Damals sahen wir, trotz seiner sehr guten Fähigkeiten vor allem weiße, kleine Striche, „Rauschen“ und nur sein geübtes Auge entdeckte das Kind im Mutterleib und dessen Herz. Da sagt Noah: „Bei einer Frau hat der Assistent nach dem Schall gesagt: „Sie hat so ein großes rechtes Herz!“ Man war sehr beunruhigt. Rechtsherzinsuffizenz ist schwer behandelbar. Allerdings hatte der Kollege den Schallkopf verkehrt gehalten, es war doch das linke Herz, das schlecht arbeitete und stark vergrößert war. „Habt ihr die Frau digitalisiert?“ Das verständnislose Gesicht meines lieben Sohns sagt mir – er kennt diese Therapie mit Digitalis, dem Gift der Fingerhutgewächse, zu meiner Zeit fast das einzig wirksame Herzmedikament, nicht. Stattdessen wurden Medikamente gegeben, deren Namen ich nicht kenne, nur ihre Funktion. Wir überspringen diese Differenz.
Tags zuvor versorgte Noah eine Frau aus einem nahegelegenen Altersheim. Sie hatte Krebs im letzten Stadium. Ins Spital kam sie, weil sie plötzlich alles erbrach, nichts mehr behalten konnte. Der Ultraschall zeigte einen Stopp im Bereich des Darms, einen Ileus. Nachdem die Diagnose gestellt war, sollte Noah ein Bett für die Frau finden. Leider gibt’s in Covid Zeiten weniger belegbare Betten. Keine Abteilung nahm die Patientin auf. Man hätte sie operieren müssen, um den Darm zu entlasten – das wollte die Chirurgie nicht. Das Operationsrisiko sei zu groß, kein Internist hätte eine Operationsfreigabe unterschrieben. Nach einem Einlauf schickte man die Frau unbehandelt wieder ins Heim zum Sterben. Noah war erschüttert und befand: „Onkologe werde ich nie!“
Als die ersten Schlucke Bier getrunken sind, später der Tafelspitz in der Suppe im Kupferkessel für Noah und die Schwammsuppe für mich kommt und, wechseln wir das Thema. Es geht nun um die Gestaltung des Geburtstags Jennys, der Verlobten Noahs. Das ist ein Feld, auf dem wir uns beide auskennen. Familienkonstellationen werden besprochen, das Lunch, der Nachmittag und der Abend. Wir schauen ins Kaminfeuer, das neben uns flackert, Noah isst das gekochte Fleisch mit den klassischen Beilagen, ich habe einen Rostbraten vor mir, der mit der Eierschwammerlsauce gut riecht. Dann bestellen wir das Dessert: Schneenockerln. Ich sage zu Noah: „Deine Mama empfand es als komisch, dass sowohl sie als auch ich nach 44 Jahren Spitalsdienst plötzlich dort Fremde sind. Wir können Dich nicht einmal auf Deiner Station besuchen.“ Mein Sohn antwortet: „Hast Du nicht genug gehabt?“ und ich denke an den Film: „Wien, Du Stadt meiner Träume“ mit Paul Hörbiger in dem dieser einmal wieder die Straßenbahn der Linie 38 führen will, nachdem er 42 Jahre Straßembahnführer war. Als die bunt zusammengesetzte Gesellschaft beschwipst vom Heurigen kommt, entwendet P. Hörbiger „seine“ Straßenbahn Linie 38 in der Remise Grinzig und fährt alle zum Schottenring. Angekommen ruft Paul Hörbiger froh und. laut: „Alles aussteigen!“ Es war seine endgültig letzte Fahrt nun droht wieder der Ruhestand. Wieder wird er am Fenster seiner Wohnung stehen und die jungen Fahrer, weil sie mit Sand bremsen wo er es unnötig findet, beschimpfen. So wollte ich nie werden, nie als Alter die Jungen beschimpfen und so tun, als ob ich es besser könnte. Erfreut ziehe ich den Hut vor den Neuerungen der Medizin, Noahs Wissen während wir die Schneenockerln in Vanillesauce mit flüssigem Erdbeer- und Schokotopping genießen. Ein junger Kellner nimmt die Nockerln mit einer anmutigen Bewegung vom Tablett eines Speiseträgers – sie waren für einen anderen Tisch bestimmt. Wir lachen mit ihm und der gestrenge Ober weist uns streng auf den Fehler hin – muss aber dann auch schmunzeln. Ich zahle mit meinem Handy – wenigstens damit im Heute.