Meine Liebste Frau und Lebenspartnerin Marguerite findet, es gäbe noch kein Kapitel: Meine Frauen. Sie regt auch an über die geliebten Kinder zu schreiben, die noch nicht vorkamen: die Kinder, die sie in die Ehe mitbrachte: Anna, Wolfi und Lilli. Unsere 3-4 Pflegekinder und alle 14 Enkelkinder. Dem kann ich nur zum Teil zustimmen: an sich hat die Biografie diese Kinder und Kindeskinder als Zielpublikum. Ich sehe aber ein, dass gerade Marguerites Kinder vorkommen sollten, wenn ich auch fürchte, dass sie sich ebenso freuen wie ärgern könnten.
In meiner Bearbeitung des Philosophen Hans Jonas, habe ich viel über dessen Vorschlag nachgedacht, dass meine Generation – die erste die alles Leben auf Erden vernichten kann – der nächsten Generation eine lebenswerte Welt übergeben muss. Aus dieser Forderung leitet Jonas seine Ethik der Verantwortung ab.
Ich kann nicht glauben, dass meine Generation eine Chance hat vor dem Gericht der kommenden Gnade zu finden. Denn – an dem einfachen Beispiel Mobiltelefon – kann ich zeigen, dass kein gütiges Urteil zu erwarten ist. Kauft man einem Jugendlichen ein Mobiltelefon, das eigentlich dessen Grundausrüstung ist, ermöglicht man soziale Teilhabe und allenfalls eine aktive Beteiligung an der Fridays-for-Future Bewegung. Allerdings kauft man damit auch seltene Erden, schwierige Entsorgung und kurze Haltbarkeit von Lithium-Ionen-Akkus, mit denen die Welt zerstört wird. Das wird dem Erwachsenen vorgeworfen werden. Daher kann das Urteil bestenfalls so ausfallen, wie meine Generation die vorangegangene beurteilt hat, die zwei Weltkriege begann und der Shoa zusah. Vernichtend.
So glaube ich eben auch, dass ich mit meinem Text ambivalente Gefühle auslösen werde.
Anna und Wolfi lernte ich am Hauptbahnhof Graz als kleine Kinder kennen. Sie waren in Vorhangstoff gekleidet, Kleidchen und Hose hatte Marguerite genäht. Es waren Ergebnisse ihres Lernens in der Schauspielschule für Kinder von Frau Metzenthin in Zürich. Anna und Wolfi waren sehr süße Kinder, selbstbewusst und froh. Dass ich – wie sie das vielleicht empfanden – die Ehe ihrer Eltern entzweite, war schlimm für sie. Als ich mir 1986 meinen ersten Heimcomputer einen Commodore 64 kaufte, wollte Wolfi ihn ausprobieren. Er schrieb: „Meine Eltern haben sich scheiden lassen!“ und berührte das Gerät nie mehr. Die Loyalität der Kinder zu ihren Eltern ist ungebrochen. Wolfis Satz: „Mama hat gesagt!“ war durch nichts zu überwinden, dieser Satz war mächtiger als alle.
Marguerite und Christof kämpften als eines der ersten Paare bei Gericht fast durch, dass sie ein gemeinsames Sorgerecht bekamen. Die Kinder wohnten die halbe Woche bei uns, die andere Hälfte bei ihrem Vater. Sie fanden das blöd. Immer die Sachen von einem Haus ins andere tragen – nie ganz zu Hause. Bis sie in der Mittelschule waren, waren allerdings mehr als 50% der Familien geschieden, dann nahmen sie es als Naturphänomen. Während Lillis Schwangerschaft kamen Marguerite und ich zusammen. Das wurde später für Lilli schwer. Sie war sich kurz unsicher wer ihr Vater sei. Heute hat sie zwei Väter und kommt damit gut zu Recht. Alle drei sind mir lieb und teuer und ich weiß, dass sie mich kaum mehr kennen würden, wenn Marguerite und ich uns trennten. Was hoffentlich nie passieren wird. So viel Gutes ist über die Drei noch zu sagen. Vor allem was ich von ihnen lernte: von Anna ihre Direktheit und Zuneigung; von Wolfi sehr viel Technisches, Engagement und wie toll das ist, wenn jemand so schnell versteht. Von Lilli eine ganz andere Art Kinder- und Jugendärztin zu sein: kenntnisreich und bescheiden, hilfreich, liebevoll, ehrgeizig mit Distanz zu den Errungenschaften des Ehrgeiz.
Trotzdem wir miteinander acht Kinder hatten, nahmen wir noch Pflegekinder auf: Marguerite und Christof sprangen ein, als zwei Kinder im Kindergarten Steingruber in Graz plötzlich wegen eines Autounfalls Waisen wurden. Karim und Jasmin begleiten sie bis heute, vom Herkommen arabische Kinder, die wie der Vorgriff auf Frieden bei den Semiten sind. Karim ist Analyst bei einer Schweizer Bank, Jasmin Ärztin im komplementärmedizinischen Bereich.
Ich traf bei einer Visite als Primarvertreter in Lillienfeld ein junge Frau, die sich den Abhang hinabstürzen wollte. Ich nahm sie zu Hause auf, nie hat sich einer ihrer Angehörigen gemeldet. Gertraud lebte mehrere Jahre mit uns in Wien zusammen und schied leider im Ärger, nachdem sie fast unser ganzes Geschirr zerstört hatte – von ihr weiß ich nichts mehr.
Eine türkischstämmige Jugendliche aus Hartberg war mehrere Monate nach Misshandlung und Selbstmordversuchen auf meiner Station Patientin. Nach Langem entschlossen wir uns sie in das Mädchenheim nach Linz zu verlegen. Dort besuchte Marguerite sie und war entsetzt: Doris musste die ersten Wochen quasi im Stubenarrest „zur Eingewöhnung“ verbringen. Wir wurden die Wochenendbesuchsfamilie. Sie wollte nie zurück nach Linz und wurde bald unser sozialpädagogisches Pflegekind. Wir sind einander bis heute treu verbunden. Ihre beiden Kinder nennen mich „Opa“.
2020 haben wir 14 Enkelkinder, von der vierzehnjährigen Mia-Fe bis zum noch nicht einjährigen Fridolin, Sebastian. Jedes ist in seiner Art ein wunderbares Kind und wir lieben und fördern sie gern. Ich wollte nie ein Großvater werden, der mit den Eltern um die Liebe der Kinder rittert, ich will keine fortlaufenden Aufgaben übernehmen, ich wollte kein Großvater werden, der in der Betreuung der Enkel seine Alterssinnkrise auffängt. Das ist mir bisher gelungen.
Das heißt nicht, dass meine Familie mir nicht das Wichtigste ist: ich wohne gern bei Kindern (so wie beim Abschluss der Biografie bei Anna und Mia und Annas 2. Mann Andreas), ich lebe gern mit den Kindern (wie mit Sämy in Israel oder mit Noah in meinem Wiener Häuschen), ich sehe meine Familie gern (wenn das auch 2020 gar nicht so leicht ist, wie es früher war). Das Bild zu Channukah auf der Stiege unseres Hauses mit zirka 30 Familienmitgliedern und den wunderbaren Schwiegersöhnen und -töchtern ist bei den meisten Kindern das Hintergrundbild ihres Handys. Ich finde, dass die Großeltern und Eltern, die der ersten Erziehungsaufgabe entwachsen sind, sich selbst beschäftigen können sollen, ihren Kinder nur in erträglichem Masse zur Last fallen sollen und insgesamt nicht die Kinder brauchen sollen, um lebensfähig zu sein, außer sie sind pflegebedürftig. Konstruktionen wie Nebenhäuser, oder Wohnungen ganz in der Nähe, regelmäßige Betreuungsaufgaben bei Enkelkindern und dergleichen finde ich schal, sie schränken Großeltern und Eltern ein und die verlangte Dankbarkeit führt zu Streit und Auseinandersetzung. Da ist’s schon besser nicht so ein guter Vater und Großvater zu sein, sondern ein „good-enough-father“ im Sinne D. W. Winnicotts.
Zuletzt: ich liebe eine*n jede*n nach seiner Art:
Anna für ihre Direktheit und Güte
Wolfi für alles, was ich von ihm lernen kann und darf und seine unverbrüchliche Treue
Lilli für ihre Liebe und ihre kompetente Art
Doris für ihre Treue und Liebe die sie uns entgegenbringt
Jetzt kommen die Enkel
Mia-Fe für ihre Frische und Frechheit
Sandro Aaron für seine Treue und Aufrichtigkeit
Phoebe Shanaia für ihre liebenswerte Art
Rosa Lea ebenfalls und für ihre Direktheit
Gavriel Jitzchak Levi für seine Klugheit
Miriam Sylvia Chaja für ihre Altklugheit
Alma Edith Golda für ihren Auftritt à la Zarah Leander
Valerie Yael für ihre fröhliche Lebendigkeit
Theresia Lilia für ihre Unbekümmertheit
Fridolin Sebastian für sein süßes Gesicht
Liam für seine Stärke
Luis für seine Tricks
Jonathan für sein Talent
Sophia für ihre Fortsetzung des genetischen Stamms Marguerites.