Es war der Sederabend, der erste Abend des Pessachfests. Alle Kinder waren bei uns zu Hause in der Meinonggasse in Graz. Meine Mama besuchte uns wegen des Fests. Wie wir mit sechs Kindern und der Mama in einer Vierzimmerwohnung gefeiert haben – ich weiß es nicht mehr. Die Kinder hatten gemeinsames Zimmer, Mama wohnte im Arbeitszimmer, wir schliefen in einem schmalen Bett. Im Wohnzimmer war die festliche Tafel gerichtet. Wie der jiddische Witz sagt: „Die Juden beklagen ihr schweres Schicksal, dann essen sie und lachen.“
So war’s an jenem Abend vom 29. zum 30. 03.1981 auch. Der Sederabend folgt einer strengen Ordnung in der die Legende der Befreiung des jüdischen Volks aus der ägyptischen Sklaverei erzählt wird. Gebete, Segenssprüche und Lesungen sind seit Jahrtausenden streng geregelt, weswegen Seder – Ordnung heißt. Wir absolvierten das gemäß den Vorschriften mit kleinen Adaptationen, wie zum Beispiel, dass jedes Kind einen Teil der Geschichte lesen durfte. Nach dem riesigen Essen bestehend aus ritueller Vorspeise, Suppe, Hauptgang und vielen Beilagen sangen wir den zweiten Teil der Hagadah, der Legende. Das letzte Lied hat den Refrain: „in der Mitte der Nacht!“, weil uns der Allerhöchste um Mitternacht errettete. Dann gingen alle zu Bett. Und es passierte in der Mitte der Nacht: Nachdem Marguerite hochschwanger die Wohnung vor dem Fest geputzt hatte, das Tafelsilber und den silbernen Pessachteller vorbereitet hatte; nachdem sie jeden Platz am Tisch geschmückt und alle Kinder festlich angezogen hatte – fand sie Zeit zu wehen. Sie ist ein Urmensch: sie empfängt und gebiert ihre Kinder nach ihrer inneren Uhr, nach ihrem Zeitgefühl und mit ein wenig Rücksichtnahme auf andere.
Alles war ruhig, ich schlief ruhig und tief nach den am Sederabend vorgeschriebenen vier Gläsern Wein. Marguerite stand um zirka 03:30 auf und ging wehend am Gang auf und ab. Wir hatten eine Hausgeburt geplant – die die Hebamme wurde verständigt. Sie kam, ich schlief. Ein Geburtsstuhl wurde im Arbeitszimmer aufgestellt, auf Anordnung der Hebamme wurde Kräutertee und ein Topf Kaffee von Mama zubereitet, langsam krochen die Kinder aus ihren Betten, keiner musste zur Schule gehen, es waren Osterferien.
Die Unruhe am Gang weckte mich um zirka sechs Uhr. Die Hebamme hatte Marguerite innerlich untersucht, Aaron lag in Hinterhauptslage perfekt. Der Muttermund öffnete sich stetig, die Wehen wurden stärker. Marguerite setzte sich auf den Gebärstuhl. Sie durfte nicht pressen, Aaron schob sich als 5. Kind langsam durch den Geburtskanal, die Schwerkraft half.
Die Hebamme hatte die Idee einen Topf mit heißem Kaffee unter Marguerite zu stellen, damit die Dämpfe Aaron beleben. Ich erhob Einspruch. Vor meinem inneren Auge sah ich ihn in der heißen Brühe schwimmen. Also kein Kaffee unter Marguerite.
Alle Kinder wurden aus dem Zimmer geschickt. Der Geburtsfortschritt war durch die Schwerkraft, weil es die 5. Geburt war, das Sitzen, statt dem sonst üblichen Liegen – Aaron kam schnell durch den Geburtskanal, plumpste raus. Alle durften ins Zimmer, meine Mama sagte dauernd: „Das war das schönste Erlebnis meines Lebens!“ Judith bekam die Schere und durfte die Nabelschnur durchschneiden. Marguerite legte sich erschöpft auf’s Bett, Aaron wurde ihr gereicht und sie legte ihn an. Die Inspektion Marguerites zeigte einen Dammriss 1. Grades, den ich nähte, obwohl die Hebamme dagegen war. Vielleicht hat sie Recht gehabt, aber ich war der Geburtshelfer und Lebenspartner.
Aaron war so, wie heute: ruhig nuckelte er an der Brust, alle Funktionen waren perfekt ausgebildet. Schwarzes Haar – ein Wonneproppen. So sollte er seine Vorschulzeit bleiben, dünn wurde er erst als er allein wohnte. Er trank und trank, nur Wolfi brauchte mehr Milch.