Schreiben

Mein lieber, jüngster Sohn Noah bekommt verlässlich einen Gähnanfall, wenn ich von seiner Masterthese zu sprechen beginne. Ich lernte Schreiben schwer. Mein Deutschlehrer der Oberstufe, Herr Prof. Dr. Hans-Heinz Tögl gab mir meine Schularbeiten als rote Schlachtfelder zurück, mit seinen Vorgängern ging’s mir keineswegs besser. Es dauerte Jahre bis ich mich davon erholte. In der Tat gibt’s eine Auffassungsdifferenz: Schriftsteller halten mich für einen schlechten Amateur, Amateure vermuten in mir einen Schreibenden. Marguerite hat nachgelesen: Bereits 1983, so fand sie, habe ich im Buch Kinderpsychosomatik, in meinem Artikel über den „Patient Parzival“ den/die Leser*in mitgenommen und so wie heute geschrieben. Für sie war es der Grund sich in mich zu verlieben. Wenn dem so war, dann hat mir das Schreiben viel Glück gebracht.

Es ist ein Elend mit dem Schreiben. Angeblich, so wieder Marguerite, fließt es aus mir heraus. Menschen berichten, dass das Schreiben eine Qual ist. Schreibende plagen sich,  jedes Wort sei eine Qual, jeder Satz wird wieder und wieder gelesen und dann verworfen. Leere Blätter machen Angst und es gibt „Schreibblockade“, die Schriftsteller jahrelang am Schaffen hindert. Peter Turrinis neuestes Stück: „Gemeinsam ist Alzheimer schöner!“ sagt die Hauptfigur DI. Vogt oft, dass er immer ein Buch schreiben wollte. Viele Menschen äußern diesen Wunsch. Wie einen Kinderwunsch. Ohne Kind und scheint’s ohne Buch will man nicht sterben, beides scheint eine Antwort auf’s Sterben zu sein, eine Möglichkeit etwas von sich weiterzugeben. Hat man in die Erziehung und das Zusammensein mit dem Kind investiert, so können Gedanken, Einstellungen und Verhaltensweisen weitergegeben werden. Bei Büchern ist das anders, da wähnt man, sich unmittelbar wiedergegeben zu haben so wie man ist. Weit gefehlt: die „Verschlimmbesserungen“ von Herausgebern, Lektor*innen und Verlagen ändern Vieles und Konstruktivisten wie ich vermuten, dass das Buch erst im Kopf des/der Leser*in entsteht, also die Rezeption das Buch erst „schafft“. Bei meinem Buch: „Ostsee-Intrige“ ist der Titel nicht von mir, mein Arbeitstitel: „Der mörderische Arzt“ gefiel dem Verlag nicht. Die Assoziationen, Erinnerungen, Wahrnehmungen und Gedanken des Lesers sind das Entscheidende – das Buch wird zu „seinem/ihrem“ Buch. Ein Buch hat wie der lateinische Grammatiker Terentianus Maurus sagt Schicksal: „habent sua fata libelli.“

Es wird gelesen, weggelegt, wieder aufgeschlagen, verschenkt, bekommt neue Be-deutung (das heißt man „deutet“ es, weist eine eigene Bedeutung zu), die je nach Individuum und dessen Ort, Zeit und Historie unterschiedlich ist. All das kann ein Autor nicht beeinflussen. Denken Sie nur an die Bibel: welche Auslegungen hat sie schon über sich ergehen lassen müssen – jede Zeit legt sie anders aus, sieht anderes darin und erzeugt aus dieser Legitimation neue Regeln.

Man schreibt also. Man fühlt sich ungenügend. Egal, ob man wie ich selten einen Verlag fand, der ein weiteres Buch von mir wollte oder ob man keinen Verlag fand wie ein Autor der Weltliteratur Marcel Proust mit seiner „Suche nach der verlorenen Zeit“, oder ob man wie Peter Turrini auf seiner alten, immer wieder reparierten Kofferschreibmaschine in Retz schreibt. Erfolg zu Lebzeiten mag schön sein, beurteilt aber nicht das historische Urteil über das Werk. Welches Werk Bestand hat, entscheidet die Nachwelt.

Jetzt höre ich schon die Spötter*innen, die sagen könnten: „Auf die Nachwelt willst Du setzen, eitler Geck? Du nimmst an, dass Deine nur selten ein 2. Mal verlegten Bücher wiederentdeckt werden, so wie es manchen Juden ging, die ermordet oder vertrieben, deren Bücher von den Nazis verbrannt und die nach 1945 wiederentdeckt wurden!“ So ging es Jakob Wassermann einst der vielgelesenere Schriftsteller als Stefan Zweig. 2020 auch wegen seines damals zeitgemäßen, schwülstigen Stils fast vergessen, nicht weltbekannt und keineswegs so oft verlegt und gelesen, wie Zweigs: „Welt von Gestern, dem Abgesang an die K&K Monarchie. Oder was ist mit Josef Roth geschehen? Einst ein gefeierter Journalist und Romanautor, kurz vor seinem frühen Tod im Pariser Exil wettete er mit Leo Perutz, dass er dessen Novelle: „Wohin rollst Du Äpfelchen?“ besser schreiben kann, In nur wenigen Tagen schrieb er die Novelle: „Flucht ohne Ende“ und Leo Perutz musste zugeben, dass derselbe Stoff besser bearbeitet war, als er es gekonnt hätte. Sie werden sagen: „Hatte Josef Roth kurz vor seinem Tod nichts Besseres zu tun, als seinem ebenfalls exilierten Freund und Kollegen zu zeigen, dass er besser ist?“ So einfach ist das nicht. Denn niemand kennt Stunde oder Tag des Todes. Wir alle vergeuden Zeit, um die es uns in der Stunde des Todes leid ist. Wir haben uns über Parkstrafen geärgert, haben mit dem/der Partner*in oft aus geringem Anlass gestritten, haben Zeit vor dem Fernseher verbracht, Zeitungen gelesen, sind spazieren gegangen und vieles mehr. Was wäre dann einem kleinen Spielchen zweier Emigranten falsch, die beide unglücklich waren, da sie ihre Sprache, die  Grundlage ihres Lebens, ihres Schreiben verloren hatten und eine Masse von Menschen, die sich wie eine Herde benahmen, willenlos einem Führer untergeben, sich ihrer Sprache bemächtigt hatten und sie für Kampfparolen verwandt. Ihre Bücher waren verbrannt  sie hatten verloren, wofür sie gelebt hatten. So kann’s gehen. Man plagt sich – jedes Wort wird wieder und wieder gedreht, neu eingesetzt, nochmals formuliert, über Nacht liegen gelassen, am nächsten Tag abgeschrieben, wieder gelesen, verworfen, neu konzipiert, der Charakter einer Figur, eine Landschaftsbeschreibung neu formuliert und in ein großes Ganzes eingepasst und dann – verbrannt, verloren, verramscht, eventuell in der einen, oder anderen Buchvorstellung präsentiert, die eine, oder andere Rückmeldung kommt und was bleibt ist Schweigen.

Warum gibt es so eine große Sehnsucht zu Schreiben, dass es sogar in dem Turrini-Stück der Alten im Altersheim als Stehsatz vorkommt?

Es ist das Nachlassen-wollen, das Etwas-soll-von-mir-bleiben, es ist das Wunder des Schaffens. Nicht immer kann und soll man sich den/die Leser*in vorstellen. Sie sind unbekannt, Schemen werden im Kopf des Schreibenden geboren. Schlimmer – es ist nicht sicher, dass das Geschriebene eine*n Leser*in erreichen wird. Vielleicht bleibt es im eigenen Computer und erscheint nirgends. Jetzt, hier: ich weiß nicht, ob ein Blog auf meiner Homepage von Bestand ist? Von mehr, oder weniger Bestand als mein letztes Buch, das nie mehr erscheinen wird. Einzelne zerlesene Exemplare gibt’s noch in der Bücherei der Stadt Wien – Leopoldstadt. 

Jetzt kommt die Auflösung des Rätsels: Man kann es sich nicht aussuchen. Ob man so begabt ist, wie Josef Roth, oder Peter Turrini, ob man so geschickt ist wie Peter Sichrovsky, oder Doron Rabinovici, ob man so viel Aufmerksamkeit braucht wie Robert Menasse, oder ob man so still sein will wie Peter Handke – man kann sich das Schreiben so wenig aussuchen, wie den Kinderwunsch. Jede Frau und jeder Mann wissen, dass es auf der Welt genug Menschen gibt. Jeder weiß, dass es nicht auf sie oder ihn ankommt und dass die Menschheit eher von Überbevölkerung bedroht ist, als vom Aussterben. Trotzdem, unabhängig von Alter und Bildungsstand: viele Frauen wollen sich, bevor es zu spät ist, noch vermehren. So geht’s Schreibenden auch: sie wissen, dass es genug Geschriebenes gibt, dass vieles besser ist, als das, was sie erzeugen. Sie kennen Klassiker, Bestseller und Vorbilder. Nichts nützt – ihnen so wenig wie den zukünftigen Eltern. Sie müssen und wollen schreiben und jeder Tag an dem nicht geschrieben, an dem nicht korrigiert wurde fühlt sich leer und schal an. Erst das Werk macht ein wenig zufrieden, erst das Erschaffene sättigt.

Da ist ein Keramiker an der Weinstraße, die an der Grenze zu Slowenien liegt. Schwere Familienverhältnisse, schweres Leben. Das wenige Glück passiert in den Momenten in denen sich die Töpferscheibe dreht und ein Gefäß entsteht, das danach gebrannt, lasiert, wieder gebrannt und vielleicht verkauft wird. Nur in seinen Werken ist dem Menschen ein Augenblick der Ewigkeit gegönnt.