Gestern (06.09.2020) traf ich Brigitte Sindelar – eine Frau, mit der ich gleichzeitig meine individualpsychologische Ausbildung zum Psychotherapeuten gemacht habe. Sie ist Vizerektorin für Forschung der Sigmund-Freud Universität geworden, lehrt Psychotherapie und betreibt mit ihrem Sohn ein Institut für Kinder, die an Lernschwierigkeiten leiden, das ihren Namen trägt. Wir saßen im Café Domeyer und sprachen über ihre bevorstehende Pensionierung, alten Bekannten aus längst vergangenen Zeiten und Walter Spiel meinem Lehranalytiker und ihrem Lehrer. Da erwähnte ich meine drei Geschenke, die ich ihm gemacht hatte.
Das Schönste an meinem 70. Lebensjahr ist, dass ich zwei Sätze verboten habe: „Das hast Du mir schon erzählt!“ und „Das habe ich Dir bereits gesagt!“ Beide Sätze weisen nur darauf hin, dass ich etwas vergessen habe und das stimmt meistens. Namen zu erinnern ist schwer, Erinnerungen werden verzerrt – es gibt Forscher, die meinen, dass Erinnerungen je und je neu erfunden werden, je nachdem in welcher Situation und wem man sie erzählt. Wir konstruieren aus dem Depot unseres Mandelkerns eine Geschichte die uns meist in einem guten Licht darstellt. Daher bitte ich meine Leser*innen, dass Sie – wenn Sie glauben, dass es diesen Inhalt schon in meiner zersplitterten Biographie gibt – keinen der beiden Sätze zu äußern.
Also: Brigitte und ich erinnern uns an Walter Spiel. Er war mein Lehranalytiker (über meine Geschichte einer Laudation anlässlich seines 60. Geburtstags habe ich einen Blog verfasst, den ich jetzt nicht finde) und sie arbeitete bei ihm. Wir begleiteten Spiels Aufstieg vom Chef des Kinderzimmers der Klinik Hoff bis zur Emeritierung als Klinikvorstand und Vorsitzender des Senats der med. Fakultät der Uni Wien. Ein Weg durch den Dschungel der Wiener Universität, Verhandlungen und Kämpfe mit alten Nazis und Überlebenden Juden des 2. Weltkriegs, Auseinandersetzungen im Weltverein für Individualpsychologie und an Fronten, die ich nie kennen gelernt habe.
Das Komisch war: Nicht ich suchte ihn mir aus, sondern er mich. Ich hatte mich als Kandidat der Gesellschaft für Individualpsychologie beworben. Mein Versuch Psychoanalytiker zu werden, musste als gescheitert angesehen werden. Der Direktor des Steinhofs und Präsident der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) der „rote“ Graf Solms bestellte die Kandidat*innen jährlich zu einer Vertröstung um 07:30 ins Direktionsbüro auf der Baumgartner Höhe. Ich stand um 05:00 auf, zog mich anständig an, fuhr mit der Straßenbahn der Linie J, anschließend 49 und mit dem Bus den Berg hinan. Alles zusammen mindestens 70 Minuten Der Pförtner wusste schon, wenn ein todmüder Student um 07:15 kam, ließ er ihn anstandslos mit einem hingeworfenen: „Morgen!“ durch. Zu mir sagte Solms: „Gut, dass sie nicht wie ein Fleischerhund sind. Die lernen unser Geschäft nämlich nie!“ Trotzdem wurde ich nicht zur Ausbildung aufgenommen.
So bewarb ich mich bei dem historisch jüngeren Bruder der Psychoanalyse – der Individualpsychologie Alfred Adlers. Adlers Lehre stand der meinem sozialistischen Denken näher, fokussierte die soziale Frage und der Verein bot eine analytische Ausbildung an. Die Bewerbung war steinig, aber als ich bei Walter Spiel als meinem letzten der drei Beurteiler war, sagte er – mir erschien’s spontan: „Sie können gleich bei mir anfangen, wenn Sie mich wollen!“ Bei Walter Spiel war nichts spontan, alles war berechnet – sonst wird man nicht Senatsvorsitzender. Später erzählte er mir, dass ich ihn an einen Klassenkameraden im jüdischen Gymnasium erinnerte, das er nach der Auflösung der Arbeitermittelschule durch den Austrofaschismus besuchte. Der Jude hatte dem Sohn Oskar Spiels, einem der Gründer der sozialdemokratischen Schule so viel geholfen, so dass er das Gymnasium positiv abschloss bevor er in den Kriegsdienst musste.
Ich begann einige Wochennach meiner Vorstellung meine liegende Analyse bei Spiel. Er war der einzige IP-Analytiker, der klassisch analysierte. Als Patient lag ich auf der Couch, er saß mit einem Schreibblock hinter mir – und schlief. Meine Aufgabe war es draufzukommen bei welchen Erinnerungen und Geschichten er aufwachte. Mir halfen bei diesem Versuch die Atemgeräusche und Grunzlaute Spiels. Selten konnte ich den Mächtigen zu einer Reaktion herausfordern. Will man einen ähnlichen Prozess nachlesen, empfehle ich Samuel Shem.
Nach drei Stunden der „Orientierung“, also den drei „L“ der IP – Leben, Liebe, Leistung – legte ich mich hin. Er zog seinen Bugholzfauteuil hinter die Couch – und – schlief alsbald ein. Ein langer Arbeitstag im AKH lag hinter ihm. Manchmal schreckte ihn das Läuten des Telefons auf, er schreckte auf, erhob sich mit Seufzer und nahm ab. Sagte: „Ja“, oder „Hm“, oder: „Gut,“ oder: „Dann bis morgen.“ Manchmal machte er mir gegenüber einen Kommentar, wie: „Das war die Klinik.“ Oder: „Wenn Sie einmal nicht können, sagen Sie es doch rechtzeitig.“ Setzte sich wieder und –.
Das war die Grundlage des 1. Geschenks: ich empfahl ihm sich ein drei Meter langes Telefonkabel verlegen zu lassen, damit er das Telefon neben den Fauteuil stellen könnte. Er könnte sonst, sagte ich mit der Frechheit der Jugend, zu Sturz kommen. Als ich eine Woche später wieder kam, war Spiel auf das Kabel stolz und bedankte sich bei mir. Er sagte so oder so ähnlich, dass sich keine Patient*in und kein Lehranalysand so um ihn angenommen hätten. Da gestand er mir seine Gegenübertragung. Ich erinnerte ihn an seinen jüdischen Mitschüler, der ihn 1938 in schwerer Zeit so freundlich aufgenommen hätte.
Das 2. Geschenk war schon komplizierter. Ich kannte Spiels Oberärzte, Max Friedrich, Ernst Berger und seinen Sohn Georg. Sie alle litten unter seiner Knute, seinen Ausbrüchen, seinen Kontrollanrufen nachts und am Wochenende. Spiel war noch unter den großen Alten aufgewachsen, unter H. Hoff, der jeden Tag nach dem Besuch der Oper Nachtvisite machte bei der alle Patient*innen zu schlafen hatten. Damit sie schliefen bekamen sie fast toxische Dosen Schlafmittel. Am Ende der Visite hatte der diensthabende Oberarzt ein Zweischillingstück mitzuhaben, Hoff zu schenken. Hoff gab’s dem Portier beim Hinausfahren. Es war klar, dass der Chef nicht selber fuhr, der dümmste Assistent erwarb mit seinen Fahrkenntnissen die Dozentur, die ihn letzten Endes bis in den Direktionssessel der Klinik am Rosenhügel führte.
Dem allen wollte ich mich nicht aussetzen. Als ehemaliges Mitglied der Freien Neuen Linken, der marxistisch-leninistischen Studentenverbindung wollte ich mich dem nicht unterwinden. Mag sein, dass das ein Fehler war. Mag sein, dass meine Karriere glanzvoller verlaufen wäre und dass ich starrköpfig war. Jedenfalls war das mein 2. Geschenk: ich widerstand allen Angeboten Spiels an seine Klinik zu kommen, sogar als er sich steigerte und mir – noch in Ausbildung – anbot Primar der städtischen Kinder- und Jugendpsychiatrie im Jugendheim auf der Hohen Warte zu werden: „Ich werde nie unter ihnen dienen!“, sagte der siebenundzwanzgjährige Schnösel. Spiel war zwischen Entsetzen, Zorn und Bewunderung hin- und hergerissen.
So kam es zum letzten Geschenk. Ich nahm eine verhext schöne Kurzzeitgeliebte, die sehr auffällig fast im Kabukistyle geschminkt war, weiße Wangen, schwarze Augen, leuchtend rote Lippen, die sie bei jeder Begrüßung – also auch W. Spiel gegenüber – zum Schmollmund formte. Sie trug auffällig färbige Kleidung und hatte eine anmutige Figur. Als sie vor der Tür von Spiels Praxis aus meinem Auto stieg kam es zur Auseinandersetzung (die sich als Analyse und Gegenanalyse camouflierte): „Ernten kann man ab 60!“ meinte er. Meine Antwort war: „Sie vertragen nichts Süßes mehr, weil sie Diabetiker sind. Wenn Sie eine junge Frau begehren, sperren Sie sich mit den Mädchen in Ihrem Chefzimmer ein. Außerdem haben Sie angeblich ein Ekzem am Penis. Das soll Ernte sein?“ Ich wurde von der warmen Liege in das Erwachsensein gestoßen. Ich machte Spiel ein Abschiedsgeschenk. Oft hatte Spiel hinter meinem Rücken mit deutlichem Behagen Tee aus einem alten Häferl getrunken. Schürzte die Lippen, verbrühte sich die Zunge, schluckte hörbar. Leider trank er Sackerltee, den Abfall der Teekultur. Ich kaufte ihm beim Schönbichler auf der Wollzeile eine Teekanne mit zwei dünnwandigen Tassen aus chinesischem Porzellan auf denen eine handgemalte Zeichnung auf weißer Lasur zu sehen war und dazu 100 Gramm Assamblatttee. Das übergab ich Spiel bei unserer letzten Stunde. Mir ward großer Lohn zuteil. Das feuchte Auge Walter Spiels und der Satz: „Unsere Lehranalyse musste frühzeitig enden. Du bist der bessere Analytiker und sogar Mensch.“
Erinnern Brigitte und ich uns an ihn und an die späten Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts essen wir freudig und ein bisschen wehmütig unsere Torten im Domeyer. Ich hatte diese ausgesucht: Schokotorte für sie, Fruchttorte für mich. Man sagt: „So lange sich wer an jemanden erinnert, lebt er.“ Gestern lebte Walter Spiel bei uns. Vielleicht war es das 4. Geschenk.