Irgendwie fühle ich, dass ich über Erwin Ringel schon viel geschrieben habe. Doch, als ich kürzlich von ihm erzählte, hatte ich den Eindruck, dass das Gute und Lustige bisher nie gesagt worden war. Er war nicht nur der bekannteste Psychiater, den Österreich je hatte, sondern auch wirklich witzig.
Erwin Ringel bekam jedes Jahr von seinem Oberarzt Peter Gathmann einen hellbraunen Kalender der Firma Hubert & Lehrner, die damals am Kohlmarkt ihr Geschäft hatte, geschenkt. Er wartete schon sehr hart auf den Kalender. Peter brachte ihn unverzüglich, nach Erscheinen im Oktober.
In diesen Kalender wurden für jeden Vormittag um 10 – 11 Uhr etwa 6 – 8 Patienten eingetragen, die Erwin gegen Bezahlung in seinem Dienstzimmer an der Klinik sah. Alle wurden zur gleichen Zeit bestellt: Da kam die Frau des Ministers und die des Vorstandsdirektors ebenso, wie ein Bauarbeiter oder Mistführer oder dessen Frau. Sie alle kamen in der Wartebucht zirka fünf Meter vorm Chefzimmer zusammen. Erwin Ringel kam um zirka 10 Uhr an die Klinik: vorher hatte er im Untergeschoß seines Hauses geschwommen, sich mit Hilfe angezogen, war vom Chauffeur abgeholt worden. Seine ehemalige Stationsschwester brachte ihm Kaffee und Gebäck, Gathmann berichtete gleichzeitig von heiklen stationären Patient*innen – sogleich wurde der erste Wartende aufgerufen. Ringel hörte den ersten, manchmal auch noch den zweiten Satz mit Interesse. Manchmal rief er etwas dazwischen, manchmal dachte er an sein Mittagessen, besonders, wenn Opernstars in der Stadt waren und er sie zum Mittagessen im Hotel Astoria treffen wollte. Er nahm den Telefonhörer und sagte: „Liebes Fräulein, könnten Sie mir eine Verbindung mit dem Astoria herstellen? Das ist ganz lieb!“ Er war mit allen Telefonistinnen des Allgemeinen Krankenhauses vertraut, kannte Namen und familiäre Umstände. Er beriet sie psychotherapeutisch während sie ihn verbinden, riet ihnen ihn aufzusuchen und war zerfließend freundlich. (Ich frage mich manchmal, ob man sich solche Beziehungen in Zeiten der Mobiltelefonie noch vorstellen kann. Es ist wie in einem alten Film, wo Menschen noch mit anderen reden mussten, wenn sie telefonieren.) Manchmal wurde Ringel auch angerufen während der/die Patient*in im Sessel saß, er frühstückte und Gathmann, oder ich berichteten. Er war meist kurz angebunden (außer mit Opernstars) und gab im Befehlston Anweisungen (Wie: „Ja, so kommen Sie doch heute noch. Ich beschwöre Sie!“ – Das war meist eine Selbstmörderin.) Währenddessen saß der bestellte und zahlende Patient auf einem Empirestuhl etwas unter dem Niveau von Ringel, der auf seinem Rollstuhl blieb, wenn er um 11:30 Vorlesung zu halten hatte. Der Klient schaute in Ringels Schritt.
Über Ringels vollgeräumtem Schreibtisch war eine Metallschiene befestigt, auf der einige berühmte Autographen angebracht waren. Sie sahen auf ihn herab: Stefan Zweigs letzter Brief aus Petropolis (1942), Briefe der berühmten Schriftsteller des fin de siècle wie A. Schnitzler, Peter Altenberg oder von R. Strauß und persönliche Schreiben an Ringel von Dirigenten wie Karl Böhm und Giuseppe Sinopoli. Diese Briefe strahlten auf ihn, manchmal las er aus ihnen vor, manchmal wies er auf den Spruch aus den Bremer Stadtmusikanten hin, der auf seinem Tisch stand. Der Hahn sagt zu den anderen Tieren: „Kommt, etwas Besseres als den Tod werden wir überall finden!“ Das war dann Suizidprävention.
Dann ging’s an den Wartenden vorbei zur Vorlesung. Herr Hampel, Pedell der Psychiatrie führte ihn. Er nannte ihn „Hamperle“. Unterwegs wurde eine von Hampel aufgenommene VHS-Kasette mit dem neuesten Fußballspiel übergeben. Der Wert der Kassette war zirka 20.- Schillinge. Ringel bezahlte zwischen 500 und 1000. Er hatte dieselbe Summe oft kurz vorher als Lohn für ein zehnminütiges Gespräch bekommen, das von Telefonaten, Hineinkommenden, seinem Bedürfnis die Toilette auszusuchen und anderem unterbrochen worden war. Die Geldrolle in seiner linken Hosentasche wurde nur unmerklich kleiner.
Die Vorlesung war Ringels großer Auftritt: Die Student*innen klopften auf ihren Pulten, wenn er hineinkam, er führte Patient*innen vor, so wie wenn es nicht die Vorlesung aus medizinischer Psychologie wäre, oder aus Psychosomatik, sondern einem klinischen Fach. Er unterschied da nicht. Ließ die Aufmerksamkeit nach, sagte er: „ … und jetzt komme ich zu einem ganz wichtigen Punkt!“ – es wurde ruhig – er sagte oft das, was er schon gesagt hatte und seine Stimme brach. Dann ging’s zurück ins Zimmer. „Wie war ich Hamperle?“ Hampel lobte.
In der Wartebucht hatte sich inzwischen eine schichtübergreifende Selbsthilfegruppe gebildet, die auf der gemeinsamen Bewunderung für Erwin Ringel aufbaute. Die Frau Nationalratspräsidentin, die selbst aus einfachen Verhältnissen stammte, hatte etwa mit der ehemaligen Stationsschwester über alltägliche Probleme zu sprechen begonnen. Die Rezepte für Kasnocken, oder Marillenknödel waren ausgetauscht, Erinnerungen, wie teure Urlaube, Seitensprünge der Männer, Religion wurden ausgeblendet. Eine nicht-moderierte Gruppe an der Ausbildungskandidaten und Lehrer, die Analytiker werden wollten, fand statt. Manchmal mischte sich auch ein*e Student*in die Sorgen hatte oder ein Mensch, der an Selbstmord dachte und vom Kriseninterventionszentrum seinen Weg zum „Selbstmordpapst“ gefunden hatte, darunter. Jede*r wurde in zehnminütigen Abständen aufgerufen: das Mittagessen mit Giuseppe Sinopoli im Hotel Astoria um 13 Uhr drängte. An den Tagen an denen Erwin das Haus nicht verließ, wurde ihm Essen serviert. Es war – Sie erraten es schon – die Stationsschwester in Ruhe, die in der Teeküche das bei sich zu Hause Gekochte auf einem Tablett brachte. Einmal fehlte die Nachspeise, das geliebte Dessert. „Eine Patientin hat’s gestohlen!“, jammerte die Schwester. „Wird wohl eine Bulimikerin gewesen sein, hol mir den Gathmann,“ war die Antwort. Gathmann kam, ganz unterwürfig und vertraut, ratlos und begütigend. Obwohl unschuldig übernahm er die Schuld, hatte bereits 20.- Schilling in der Hand, gab’s der Schwester, die lief zum Büfett und kaufte Kuchen. Fast täglich rief das Fernsehen an – man wollte einen Beitrag Ringels. Meist ging er. Dort umzäunte er virtuell Österreich und machte daraus eine psychiatrische Anstalt. Die Zusammenfassung dieses Versuchs Österreichs „Präsident“ zu werden, indem er es zu einer Anstalt umdefinierte, mündete in dem Buch: „Die österreichische Seele“. So wie sein Analysand, der berühmte Schriftsteller Peter Turrini war er antifaschistisch und bezweifelte die Legende, dass Österreich das „erste Opfer des 3. Reichs“ gewesen sein sollte, wie es in den Jaltaverträgen festgelegt wurde: Diese Geschichtsklitterung verhinderte aber die Aufarbeitung der begeisterten Mittäterschaft am Dritten Reich, die er erlebt hatte. Seine Erinnerungen an die Demonstration der katholischen Jugend vor dem Sitz des Erzbischofs von Österreich im März 1938, seine Erinnerungen an die Strafkompanie, in die er wegen des Verlusts seines Gewehrs versetzt wurde, seine Erinnerungen an den Umgang der Nazis mit seinem erzkatholischen Vater – er konnte nicht glauben, dass das die Opfer des Faschismus waren.
Er war Bonvivant und ernster Katholik. Seine Änderung des codex iuris canonici zugunsten der Selbstmörder, sah er als sein bedeutendstes Lebenswerk an. Er war überraschend, witzig und lehrreich. Nach seiner Schule noch etwas von den Regularien der Psychotherapie ernst zu nehmen, war unmöglich. Dafür danke ich ihm, so wie für manch anderes.