Man glaubt sich mit seinem Herkommen gut auszukennen. Erst wenn man es niederschreibt, erkennt man, dass das keineswegs so ist. Von der Vatersseite kenne ich zumeist nur Anekdoten. Meine Eltern trennten sich als ich sechs Jahre alt war. Dann traf ich zwar meinen Vater die nächsten 20 Jahre wöchentlich, aber anfangs ging’s ums Tischtennisspielen, dann um Frauen und immer um das „richtige Leben“. Sein Hintergrund war das Theresianum aus dem er nach einem antisemitischen Vorfall geworfen wurde, die Monarchie und daher der „aufrechte Gang“ dem jeder Vorteil der mit Hilfe von Betrug, oder Täuschung erlangt werden könnte, zu opfern sei. Da waren Achilles, Patroklos und Anaes mehr gefragt, als die Erzählung über Kurts Großvater von dem ich zum Beispiel nichts weiß.
Die Eltern meines Vaters Kurt, Berthold und Ida Scheer hatten bis 1939 ein großes Modegeschäft in der Fasangasse, in Wien 3, nach meiner Erinnerung im späteren Geschäft der Radsportlegende Ferry Dusika, was sich allerdings nicht im „Findbuch“ evaluieren lässt. Das ist deshalb komisch, weil in dem elektronischen Buch alle arisierten, jüdischen Geschäfte aufgeführt sind. In Wien 3, Fasangasse waren es etwa 25. Ich nehme daher an, dass die Großeltern das Geschäft noch 1938 verkaufen konnten. Meist war ein solcher Verkauf schlecht: da der Verkäufer verkaufen musste, zahlten die Käufer einen schlechten Preis. Sie zahlten überhaupt, weil sie zum Beispiel keine illegalen Parteimitglieder gewesen waren und sich daher schlechte Chancen bei der Zuteilung eines arisierten Geschäfts ausrechneten.
Mein Vater Kurt, 1918 geboren, einziges Kind von Berthold und Irma entstand bei einem Fronturlaub Bertholds 1917. In ihrer direkten Art sagte Großmutter Ida einmal: „Er hat mir meinen Sohn und Tripper heimgebracht!“ Kurt wuchs von seiner Mutter sehr behütet in einer kaputten Familie auf. Nach der Heilung vom Tripper (Gonorrhoe) wollte Ida nichts mehr von Berthold (Spitzname: Goscha) wissen. Der Credèschen Prophylaxe, ist es wahrscheinlich zu danken, dass Kurts Augen bei der Geburt nicht mit Gonokokken infiziert wurde. Da ich diese furchtbar schleimhautreizenden Silbernitrattropfen vielen Neugeborenen in den Bindehautsack tropfte, sei es mir als Kinder- und Jugendfacharzt erlaubt Herrn Crede hier eine kleine Anmerkung zu widmen.
Die Zeit nach dem 1. Weltkrieg war eine Zeit des Hungers und der Not, nicht zuletzt durch die sogenannten Friedensverträge von St. Germain, die – da hatten die Nationalen schon Recht – eher Diktate waren, als Verträge. Hinzu kamen die strengen Winter, die sog. Spanische Grippe und schlechte Ernten. Die heimgekehrten Soldaten mussten sich neu orientieren. Berthold wurde als Feldwebel abgerüstet und erhielt die Kaiser Karl Medaille, allerdings trägt die Verleihungsurkunde den Stempel: Verleihung ausgesetzt, da Armee aufgelöst. Man stelle sich vor: in einem schlecht geheizten Büro des Kriegsministeriums am Stubenring sitzt ein Beamter, hat einen Stempel anfertigen lassen und stellt den Kameraden Verleihungsurkunden für Orden und Ehrenzeichen zu auf die er diesen Stempel aufprägt. Was für ein wunderbares Signal eines untergegangenen Kakaniens, was für eine österreichische Dienstauffassung eines Heeresbeamten!
Es gelang den Scheers in den Jahren ab 1920 eine gute Existenz aufzubauen. Wohnung ist mir unbekannt, Adresse und Ausmaß des Geschäftslokals kann auch falsch sein. Die Volksschule besuchte Kurt 1924 – 28 im dritten Bezirk, wo genau könnte ich heute nicht sagen. Wahrscheinlich in der Reisnerstraße, wo wie ich ab 1957, Sein erstes Gymnasium war das seit dem Zusammenbruch der Monarchie privat geführte, teure Theresianum auf der Favoritenstraße, die ehemalige Eliteschule des Adels. Bis heute ist es die Ausbildungsstätte des Adels und daher der österreichischen Diplomaten, die sich weiterhin mehrheitlich aus dem alten Adel rekrutieren. Ab der Republik 1918 wurden die Tore der Schule bürgerlichen geöffnet, wobei auch schon länger reiche Bürger und Kriegslieferanten ihre Kinder in diese Schule geschickt hatten. Mein Vater schaffte es bis in die 2. Gymnasialklasse (Sekunda) – dann reagierte er auf den Anruf „Saujud!“ eines Schulkollegen 1930 mit einer Ohrfeige, die den Rufenden durch das runde Halbstockfenster in den ostseitig gelegenen Garten der ans Belvedere anschließt, vor die Füße des Herrn Hofrat beförderte. Kurt wurde relegiert, nicht der Rufer. Saujud zu sagen war und ist in Österreich kein Krimen, das zu einer Relegierung führt. Den Rufer zu ohrfeigen, schon. Er verließ – rückblickend zu seinem Glück – das Theresianum und machte eine Ausbildung zum Textilingenieur an der Wiener Technischen Gewerbeschule (TGM) auf der Nussdorferstraße in Wien 9, die er mit Fachmatura für Textilwesen (Stricken und Wirken) abschloss. Nach drei Jahren Praxis hätte er den Titel Ingenieur über Antrag der Wirtschaftskammer vom Wirtschaftsministerium verliehen bekommen. Als er maturierte gab’s das österreichische Wirtschaftsministerium nicht mehr, sondern nur die Niederlassung des deutschen in der Ostmark. Da seine Matura wegen des einen zusätzlichen Jahrs (5 statt 4 Klassen Oberstufe), den eine Berufsausbildung verlangt in das Jahr 1938 fiel, legte er seine Reifeprüfung als Externer ab, da Juden nach der Okkupation Österreichs vom Schulbesuch ausgeschlossen worden waren. Danach machte einige Monate Praktikum bei Bunzl und Biach machen – der Betrieb wurde ebenfalls arisiert, aber im Gegensatz zum Geschäft meiner Großeltern an die Besitzer nach 1947 rückgestellt. Ende 1938 verließ Kurt Österreich mit einem Studentenaffidavit ausgerüstet und dem innerlichen Entschluss in Palästina meine Tante Edith, die gleichaltrig war zu heiraten. Stattdessen heiratete er meine Mutter Sylvia 1942, nachdem Edith ihn dauernd und erniedrigend verschmähte. Tante Edith galt als Genie, jedenfalls war sie das, was man eine „jüdische Prinzessin“ nennt. Sie war das erste Kind Syskas und Oskar – schändlicher Weise schon vor der Hochzeit gezeugt. Sie war das Zeichen dafür, dass die Schrecken des 1. Weltkriegs überstanden sind. Nach erfolgreicher Schulkarriere inskribierte sie im Herbst 1937 Chemie am der Universität Wien und wurde 1938 aus sogenannt rassischen Gründen vom Studium ausgeschlossen.
1938 floh Kurt nach Israel ausgestattet mit einem Studentenaffidavit, das ihm die Möglichkeit geben sollte in Palästina die Universität zu besuchen. Leider konnten keiner in Palästina studieren. Edith arbeitet mit ihren Eltern bei der Firma Wasservogl in der Ben-Jehuda Straße. mit. Herr Wasservogl war Fotograph aus Berlin: er fotographierte Soldaten, die ihr Foto nach Hause schickten. Meine mütterlichen Großeltern mieteten sich in dem bestehenden Fotoladen einen Tisch für den Verkauf von Souvenirs an. Mama stand vor der Türe und rief: Coushen covers, The last supper, real mother of pearls!“ um die Soldaten anzulocken. Diese Worte fielen ihr bis zuletzt ein, wenn über Straßenankünder gesprochen wurde, oder wir bei einer Reise solche Menschen vor Geschäften sahen. Dann erinnerte sie sich an die Zeit, in der sie dasselbe gemacht hatte und die „Zubizahrer“, wie sie auf Wienerisch heißen, taten ihr leid.
Später wurde Sylvia wurde zur Anlehre in ein anderes Souvenirgeschäft geschickt und erst als sich herausstellte, dass der Ausrufer meiner Großeltern diese bestahl, wurde sie wieder Ausruferin ihrer Eltern.
Aus der Art der Ehen wie sie heute gelebt werden, kann ich es mir nicht vorstellen, dass Opa Oskar und Oma Syska in dem Laden zusammengearbeitet haben. Oma wohnte mit ihren zwei Töchtern gegenüber der Wohnung, die Opa mit seiner Nebenfrau Minna bewohnte. Oma schrie über die Straße hinweg: „Chonte!“ was auf Jiddisch Hure heißt, aber tagsüber standen sie wieder im Geschäft, das von Omas Sturheit und Opas Ideen lebte. Opas Geschwister mischten sich ein die ringsum wohnten, wie Tante Anna und Izchak, der ältere Bruder. Kurts Eltern betrieben inzwischen das Restaurant Armon in Bat Yam am Südrand Jaffos, damals eine weite Entfernung, heute Teil meines Morgenspaziergangs. Die Entfernungen waren damals länger, keiner rannte am Strand, man fuhr kaum Fahrrad und der Bus erschien teuer, die Fahrt dauerte mindestens ½ Stunde, Klimatisierung gabs noch nicht – mit einem Wort man traf sich selten.
Leider hatten Oskars viele guten Ideen Abgleitflächen. Er sagte manchmal etwas, das er besser nicht gesagt hätte. Er beobachtete Herrn Wasservogl wie der die Uniformen der australischen Soldaten glattstrich, um sie für`s Foto herzurichten und sagte dann: „Ich glaub‘ der ist ein Warmer!“ 1942 war Homosexualität ein Verbrechen, wie es es leider bis heute in vielen Ländern eines ist. Jedenfalls hörte Frau Wasservogl das und sperrte nächsten Tag das Geschäft einfach nicht auf, der Rollbalken blieb unten. Die Legende will es haben, dass Oma Syska so lange mit einem Stock gegen die geschlossenen Rollläden schlug und dabei jiddische Ausdrücke, wie: „Ganev“ (Dieb) und noch schlimmeres rief, bis die Wasservogls den Rollladen hoben und die Ware herausgaben. Die Zusammenarbeit war vorbei, Opa nahm einen Bauchladen und ging an den Strand, Oma eröffnete einen Mittagstisch. Beides deutliche Verschlechterungen.
So, jetzt ist es klar: ich weiß nicht viel über meine Vorfahren, das Wenige sind Anekdoten – aber sind sie das nicht immer? Alle Erinnerung wird im Moment des Erinnerns geschaffen, sagt der Konstruktivismus. Es sind Familienlegenden, nicht mehr und nicht weniger.